Die Rabentochter by Dionne Karen

Die Rabentochter by Dionne Karen

Autor:Dionne, Karen [Dionne, Karen]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Goldmann Verlag
veröffentlicht: 2020-11-15T16:00:00+00:00


Sechzehn

HEUTE

Rachel

Ich muss wieder in den Wald gehen. Es ist kein Wunsch, es ist eine Notwendigkeit. Ich muss raus, muss die Luft atmen, die Stille spüren, die Erde riechen, mich wieder mit dem Menschen verbinden, der ich früher war. Jetzt, da ich weiß, dass ich im Wald war, als ich das letzte Mal mein Gewehr abfeuerte, bin ich hundertprozentig davon überzeugt, dass ich nur so meine Erinnerungen wiedergewinnen kann – alle meine Erinnerungen an jenen furchtbaren Tag: was ich getan habe, was ich gesehen habe, wie ich die folgenden zwei Wochen überlebt habe. Ich habe zu viele Jahre mit dieser Lücke in meinen Erinnerungen gelebt und mir eingeredet, es sei in Ordnung, und ich würde diese Leerstelle in meinem Leben nie füllen können. Ohne je zu ahnen, dass das eine Ereignis, über das ich mich definierte, vielleicht gar nicht so stattgefunden hatte, wie ich glaubte.

Ich stehe vor der Leiche meiner Mutter mit einem Gewehr in der Hand.

Der Rechtsmediziner hat ausgeschlossen, dass die Tochter das Gewehr abgefeuert haben kann.

Der Wald wird mir verraten, was davon die Wahrheit ist.

Ich vergewissere mich, dass Diana und Charlotte noch in ihren Werkstätten sind, dann schiebe ich meinen Koffer und meine Reisetasche unter das Bett, schließe die Tür meines Schlafzimmers und gehe nach unten in den Vorraum, um Stiefel und eine wärmere Jacke anzuziehen. Der Tag mag vielleicht sonnig und einladend wirken, aber solange der Schnee nicht ganz geschmolzen ist, solange der Frost noch in der Erde steckt und der See zugefroren ist, wird die Luft nie wirklich warm. Auf der Upper Peninsula zu leben ist so, als ob man in einer Kühltruhe wohnt, haben meine Eltern immer gescherzt.

Ich wähle eine braune Segeltuchjacke von Carhartt, die mich an die meines Vaters erinnert (und sie ist es vielleicht sogar, denke ich, als ich sie anziehe), lege einen dicken Wollschal um, ziehe warme Sorel-Stiefel an und stecke noch für alle Fälle ein Paar Fäustlinge ein. Der Raum ist so voll mit Outdoor-Kleidung, dass Diana oder Charlotte, sollten sie während meiner Abwesenheit zurückkommen, wohl kaum merken werden, dass etwas fehlt. Außerdem werde ich auch nicht lange weg sein. Ich will lediglich zu dem alten Beobachtungsversteck meiner Mutter gehen, mir ein trockenes Plätzchen zum Sitzen suchen, dem Wald lauschen und darauf warten, dass meine Erinnerungen zurückkehren. Vielleicht werde ich mich ein bisschen mit einem Vogel oder einem Insekt unterhalten, falls welche in der Nähe sind.

Ich schleiche mich zur Vordertür hinaus und mache einen Umweg durch den Wald, sodass ich von der Scheune aus nicht gesehen werden kann, bis ich auf unseren Zufahrtsweg stoße. Jeder Schritt bringt Erinnerungen zurück – glückliche Erinnerungen aus der Zeit, bevor mein Leben in die Brüche ging. Um diese Jahreszeit zog mein Vater immer los, um Ahornsirup zu zapfen, und ich konnte es kaum erwarten, ihn dabei zu begleiten. Dass man aus dieser dünnen, farblosen und fast geschmacklosen Flüssigkeit durch Einkochen den süßesten und aromatischsten Zucker gewinnen kann, den man sich nur vorstellen kann, erschien mir immer wie ein Wunder. Ich dachte viel über den Indianer nach, der diese erstaunliche Köstlichkeit entdeckt hatte.



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