Die Nacht gehoert dem Drachen by Casale Alexia

Die Nacht gehoert dem Drachen by Casale Alexia

Autor:Casale, Alexia [Casale, Alexia]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-10-26T04:00:00+00:00


Amy legt einen Arm um meine Schultern und zieht mich dicht zu sich heran, während ich den Grabstein anstarre. Ich kann spüren, dass sie zittert. Paul hat von der anderen Seite ihre Taille umfasst. Sie hat schon Blumen auf das Grab gelegt und Vogelkot und verdorrtes Gras entfernt, in diesem Jahr erstaunlich wenig. Ich habe den Blick bemerkt, den Onkel Ben ihr zugeworfen hat, bevor sie sich an die Arbeit machte, und nehme an, dass er etwas damit zu tun hatte.

Paul und ich haben Unkraut gejätet und die Stiefmütterchen runtergeschnitten, und Amy berichtet Adam wie in jedem Jahr alles, was sich seit unserem letzten Besuch zugetragen hat.

Onkel Ben steht ein paar Schritte hinter uns, auf halbem Weg zwischen Adams Grab und dem von Tante Minnie. Ich habe auch dieses mit in Ordnung gebracht, weil Adams Grabstelle schon aufgeräumt war. Ich mache mir Sorgen um Onkel Ben. Er übernachtet am Vorabend des Todestages meist bei uns, aber gestern Abend ging er nach Hause, sobald Amy im Bett war. Er ist auch nicht zum Frühstück gekommen, sondern hat sich hier, auf dem Friedhof, mit uns getroffen. Er wirkte ganz normal, begrüßte Amy lächelnd und mit einer liebevollen Umarmung und erzählte ihr von nervigen Problemen bei der Arbeit. Doch er putzt ständig seine Brille. Amy hat das nicht bemerkt – was an diesem Tag nicht weiter verwundert –, aber sie weiß genauso gut wie ich, dass er das nur tut, wenn er flunkert. Ich habe keine Ahnung, was er vertuschen will. Er sieht nicht verweint aus. Und er hat auch keine Fahne.

Vormittags trieb uns Amy mit ihren Sorgen beinahe in den Wahnsinn, und sie beruhigte sich erst, als sie Onkel Ben sah und merkte, dass er wohlauf ist. Paul war auch angespannt, aber wenn er sich Sorgen macht, wird er zum Glück immer still und starr, und so warf niemand sein Müsli quer durch die Küche. Ich fand es allerdings sonderbar, dass Paul sich gleich nach dem Betreten des Friedhofs entspannte, noch bevor wir Onkel Ben sahen. Während Amy Adam von meiner Bestnote in Geschichte erzählt, überlege ich, ob es daran lag, dass Paul gleich Onkel Bens Auto auf dem Parkplatz gesehen hatte und so davon ausging, dass alles in Ordnung sei. Aber das bezweifele ich, denn als Amy ihn auf das Auto hinwies, war Paul weiter angespannt und holte das Handy heraus, als wollte er nach Nachrichten schauen.

Ich behalte die beiden abwechselnd im Auge, bemerke aber nur, dass Paul den Blick Onkel Bens auffängt und den Kopf lächelnd zur Seite neigt. Onkel Ben erwidert das Lächeln und fährt dann fort, die Ballerina-Rose auf Tante Minnies Grab zu beschneiden. Das ist alles.

Ich finde das rätselhaft. Ja, natürlich steht Onkel Ben heute neben sich – das gilt für alle drei, und das verstehe ich –, aber ich weiß nicht, was heute anders sein sollte. Oder warum Amy nicht auch findet, dass er anders ist. Denn das tut sie nicht. Das merke ich ihr an. Sie verhält sich in diesem Jahr genauso wie in allen Jahren zuvor.



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