Die Morgenlandfahrt by Hermann Hesse
Autor:Hermann Hesse [Hesse, Hermann]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00
JETZT SIEHT WIEDER ALLES ANDERS AUS, UND
ich weiß noch nicht, ist meine Sache dadurch eigentlich gefördert worden oder nicht, aber ich habe etwas erlebt, es ist mir etwas begegnet, was ich niemals erwartet - - - oder nein, hatte ich es nicht dennoch erwartet, hatte ich es nicht vorge-fühlt, gehofft und ebensosehr gefürchtet? Ja, das hatte ich. Und doch bleibt es wunderbar und un-wahrscheinlich genug.
Ich war manche Male, zwanzigmal oder mehr, zu den mir günstig scheinenden Stunden durch den Seilergraben gegangen und viele Male am Haus Nr. 69 a vorübergeschlendert, die letzten Male immer mit dem Gedanken: »Jetzt probiere ich es noch ein einziges Mal, und wenn es nichts ist, komme ich nie wieder.« Nun, ich kam dennoch immer wieder, und vorgestern abend ist mein Wunsch in Erfüllung gegangen. Oh, und wie ist er in Erfüllung gegangen!
Als ich mich dem Hause näherte, in dessen grau-grünem Bewurf ich nun schon jeden Sprung und Spalt kannte, hörte ich aus einem der oberen Fenster die Melodie eines kleinen Liedes oder Tanzes, eines Gassenhauers, mit den Lippen gepfiffen. Idi wußte noch nichts, aber ich horchte auf, die Töne mahnten mich, und irgendeine Erinnerung begann sich in mir aus dem Schlaf zu arbeiten. Es war eine banale Musik, aber es waren wunderbar süße, leicht und anmutig geatmete Töne, welche dieser Pfeifer mit seinen Lippen hervorbrachte, unge-mein reinlich, wohlig und naturhaft anzuhören wie Vogeltöne. Ich stand und horchte, bezaubert und zugleich von innen her sonderbar bedrängt, ohne aber irgendeinen Gedanken dabei zu haben.
Oder wenn ich doch einen hatte, war es etwa der, das müsse ein sehr glücklicher und sehr liebenswerter Mensch sein, der auf diese Art zu pfeifen wisse. Manche Minuten stand ich gebannt auf der Gasse still und lauschte. Ein alter Mann ging vorbei, mit einem eingesunkenen Krankengesicht, der sah mich so stehen, horchte ebenfalls, nur einen Augenblick, dann lächelte er mir im Weitergehen verstehend zu, sein schöner weitsichtiger Greisen-blick sagte etwa: »Bleib du nur stehen, Mann, so hört man nicht alle Tage pfeifen.« Der Blick des Alten hatte mir das Gemüt erhellt, es tat mir leid, daß er weiterging. Zugleich aber merkte ich in dieser Sekunde, daß ja dieses Pfeifen die Erfüllung all meiner Wünsche sei, daß der Pfeifende Leo sein müsse.
Es dämmerte schon, doch brannte noch in keinem Fenster Licht. Die Melodie mit ihren naiven Va-riationen war zu Ende, es wurde still. »Jetzt wird er oben Licht machen«, dachte ich, es blieb jedoch alles dunkel. Und jetzt hörte ich oben eine Tür gehen und hörte bald auch Schritte im Treppen-haus, das Haustor ging sachte auf, und es kam je -
mand herausgegangen, und sein Gang war von
der gleichen Art wie vorher sein Pfeifen: leicht, spielerisch, aber straff, gesund und jugendlich. Es war ein nicht großer, aber sehr schlanker Mann mit bloßem Kopf, der da ging, und jetzt erkannte ihn mein Gefühl mit Sicherheit: es war Leo, nicht nur der Leo vom Adreßbuch, es war Leo selber, unser lieber Reisekamerad und Diener Leo, der damals, vor zehn oder mehr Jahren, uns durch sein Verlorengehen so sehr in Betrübnis und Ver-legenheit gebracht hatte.
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