Die Märchenherz-Reihe 2. Zwischen Blut und Krähen by Ann-Kathrin Wolf

Autor:Ann-Kathrin Wolf [Wolf, Ann-Kathrin]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2015-11-06T16:00:00+00:00

***

Er musste den Augenblick nutzen. Es würde seine einzige Chance sein. Von seinem Platz auf dem Fenstersims aus beobachtete er das junge Mädchen, welches im Zimmer andächtig ein Ballkleid über eine Schneiderpuppe drapierte. Es dämmerte bereits und die Zeit wurde ihm knapp.

Er schüttelte seine schwarzen Federn und klapperte ungeduldig mit dem Schnabel. Das Mädchen hatte das Fenster geöffnet, um frische Luft hereinzulassen, was sein Glück war. Er beobachtete jede ihrer Bewegungen und spannte seine Muskeln an. Jeden Augenblick würde es so weit sein. Seine Königin wartete bereits voller Ungeduld auf ihn. Er konnte es spüren.

»Mary, wie lange brauchst du denn noch?« Ein zweites Mädchen gesellte sich dazu und stemmte die Hände in die Hüften. Das erste wich aufgeschreckt von dem Kleid zurück und zupfte an seiner Schürze.

»Ich bin so gut wie fertig, Anne. Das Kostüm für die Begrüßung liegt griffbereit auf dem Bett. Ich habe nur das Kleid für Miss Alex bewundert. Sie wird umwerfend aussehen.«

Anne nickte zustimmend und blickte ebenfalls aufs Kleid.

Menschen, dachte er angewidert und schüttelte empört sein Gefieder.

»Jetzt aber weiter, Mary.« Anne hatte sich aus ihrer Starre gelöst und zog an Marys Arm. »Mrs Monroe hat noch andere Aufgaben für uns. Der Ball ist schon morgen. Komm jetzt!« Nur widerwillig ließ sich Mary vom anderen Mädchen mitziehen. Als die Tür hinter den beiden Dienstmädchen endlich ins Schloss fiel, stieß er einen tiefen Krächzer aus und hüpfte über den Fenstersims zum geöffneten Fenster.

Was für eine Erleichterung, dass das Dienstmädchen das Fenster nicht wieder geschlossen hatte.

Seine scharfen Krallen kratzten über den Sims und er verfluchte seine ungelenke Gestalt. Ohne noch länger zu warten, stieß er sich vom Fenstersims ab und schwebte hinein.

Beinahe wäre er an dem Vogelkäfig hängengeblieben, doch sein scharfer Blick bewahrte ihn davor. Er schlug mit seinen Flügeln und wich dem Vogelkäfig geschickt aus. Die kleine Nachtigall darin schrie empört auf.

Schon bald werde ich mich auch um dich kümmern, dachte er bei sich und hielt auf die Puppe mit dem Kleid zu. Das Band seiner Königin hing in seinem Schnabel. Sein Auftrag war so gut wie erfüllt.

Einen Augenblick hing er vor dem Kleid in der Luft und schlug unablässig mit seinen Schwingen. Seine roten Augen suchten gierig nach einer geeigneten Stelle, um das Band zu drapieren.

Wie lästig die Gestalt der Krähe war! Ohne die geschickten Finger seiner menschlichen Gestalt kostete ihn sein Vorhaben mehr Zeit, als er vielleicht hatte.

Sein feines Gehör vernahm noch keine Schritte, die auf das Zimmer zuhielten, aber sein Instinkt riet ihm zur Eile. Wenn ihn jemand entdecken würde, wäre es aus. Seine Königin wäre verloren.

Schließlich entdeckte er das zarte Band, welches um die Mitte des Kleides gebunden war, und seine scharfen Krallen schlossen sich darum. Mühsam zerrte er an dem Band und ein wütendes Krächzen bahnte sich seinen Weg nach oben. Das Band seiner Königin hielt er weiterhin fest in seinem Schnabel.

Beim nächsten festen Flügelschlag löste sich das Band endlich und er geriet kurz ins Trudeln. Schnell hatte er sein Gleichgewicht wiedergefunden und flog nun vorsichtig wieder zum Kleid. Hektisch suchten seine Augen nach einer Möglichkeit das Band seiner Königin zu befestigen.

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