Die Liebenden von San Marco by Charlotte Thomas

Die Liebenden von San Marco by Charlotte Thomas

Autor:Charlotte Thomas [Thomas, Charlotte]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Lübbe Digital
veröffentlicht: 2015-05-09T16:00:00+00:00


Nach seinem Zeitgefühl vergingen bis zum nächsten Auftauchen des kleinen Arabers mehrere Stunden, in denen er immer wieder eindöste, während seine Kopfschmerzen von der stickigen, feuchten Enge und dem allgegenwärtigen Gestank eher schlimmer statt besser wurden. Unentwegt sann er darüber nach, warum man ausgerechnet ihn verschleppt hatte. Vom Unwesen der Menschenräuber hatte er schon viel gehört, doch meist fielen solchen Entführungen junge Mädchen zum Opfer, die wegen ihrer besonderen Schönheit den Sklavenjägern ins Auge stachen. In einem unbeobachteten Moment wurden sie betäubt und auf eines der vielen Schiffe verschleppt, von denen in Venedig täglich Hunderte ein- und ausliefen. Meist landeten diese bedauernswerten jungen Geschöpfe in den Harems orientalischer Potentaten, wo sie von verfetteten Eunuchen bewacht wurden und ihr Dasein fortan nur noch dem Zweck widmen mussten, dem jeweiligen Herrscher sexuell gefällig zu sein. Jedenfalls kursierten allenthalben Gerüchte dieser Art; ob und wie viel man davon glauben konnte, war eine andere Sache. So hieß es etwa, dass der Sultan sich Hunderte von Frauen hielt und jede Nacht eine andere begattete, wobei dieses Gerede nach Paolos Dafürhalten eher von Neid als von Abscheu bestimmt war.

Auch erzählte man sich in Venedig Schauergeschichten von Jünglingen, die von denselben Menschenhändlern geraubt und anschließend noch auf See kastriert wurden, damit man sie als Eunuchen einsetzen konnte. Nur Männer ohne Geschlechtsteile durften im Harem Dienst tun, so lautete das osmanische Gesetz. Die Prozedur, so hieß es, war ebenso grausam wie blutig, denn man schnitt den armen Teufeln bei vollem Bewusstsein die Hoden ab. Bei dem Gedanken durchfuhr Paolo ein Schaudern, und unwillkürlich griff er sich zwischen die Beine, wie um zu prüfen, ob noch alles an Ort und Stelle war. Gleich darauf schalt er sich einen Narren. Noch nie war ihm zu Ohren gekommen, dass Osmanen gestandene Männer entführten, um sie für den Eunuchendienst zu missbrauchen. Dasselbe galt für die Verwendung von Christen beim türkischen Militär – auch hierfür wurden von den Osmanen nur Jungen ausgewählt. Der Sultan schickte dazu scharenweise Häscher durch sein Reich, sogar über die Grenzen hinaus, und jedes Dorf, jede Stadt musste eine festgelegte Anzahl Jungen ausliefern, wenn die übrigen Bewohner weiterleben wollten. Paolo hatte gehört, dass man diese Rekrutierung Knabenlese nannte, wobei es den davon betroffenen Jungen, im Vergleich zu den übrigen Entführungsopfern, vermutlich in ihrem späteren Leben noch am besten erging. Sie behielten nicht nur ihre Würde und ihre Männlichkeit, sondern wurden auch zu hervorragenden Kriegern und Kämpfern ausgebildet, die im Sultanat eine eigene Kaste mit besonderen Rechten bildeten – die Janitscharen.

Endlich öffnete sich die Luke wieder, und Paolo sprang von der Koje, auf der er es sich in den vergangenen Stunden halbwegs bequem gemacht hatte.

»Du hierbleiben, bis wir ankommen«, beschied ihn Abbas durch die Öffnung. »Kapitän mit dir sprechen, wenn dort.«

Damit begann eine Reihe von Tagen, die in eintöniger Langeweile verstrichen und deren einziger Lichtblick jeweils darin bestand, dass Abbas ihm Wein und Essen in die Kajüte brachte. Der Kübel, in den Paolo seine Notdurft verrichtete, wurde zwei Mal täglich entgegengenommen und leer wieder herabgereicht. Das war alles an menschlichen Kontakten, die ihm während seiner Gefangenschaft unter Deck zuteil wurden.



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