Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition) by Rehn Heidi
Autor:Rehn, Heidi [Rehn, Heidi]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783426420652
Herausgeber: Knaur eBook
veröffentlicht: 2013-10-16T22:00:00+00:00
6
Mitten in der Unterhaltung wurde Dora plötzlich still, richtete den Blick fasziniert durch das kleine Fenster, das die Wagenplane nach vorn an der Schulter des Fuhrmanns vorbei öffnete. Wie oft hatte sie sich in den letzten Jahren diesen Anblick in Gedanken ausgemalt, hatte wieder und wieder nachgelesen, was Urahn Laurenz Selege dazu schrieb, hatte seine detailgetreuen Zeichnungen so oft betrachtet, dass sie zuletzt bereits fürchtete, sie verblassten allein schon ob des vielen Anschauens. Veit Singeknechts schwärmerische Schilderungen hatten schließlich ein Übriges dazu beigetragen, ihre Vorstellungen so weit auszuschmücken, bis sie irgendwann meinte die Marienburg bis in jeden einzelnen Backstein hinein zu kennen, ohne überhaupt je einen Fuß dorthin gesetzt zu haben. Dennoch überwältigte sie das Schauspiel dort im Westen nun vollends. Stocksteif saß sie da, konnte nur noch starren und staunen, völlig unfähig, je wieder damit aufzuhören. Veit hatte recht gehabt, das Studieren von Büchern konnte das wahrhaftige Schauen nicht ersetzen. Erst dabei erfasste man mit allen Sinnen, was das Besondere eines Baus ausmachte.
Die Reisegefährten mussten ihre besondere Stimmung ahnen. Teilnahmsvoll verstummten auch sie, um ihr die Ruhe zu schenken, das gewaltige Bild andächtig in sich aufzusaugen. Lediglich Mathilda, ihr schräg gegenüber, entfuhr einmal mehr ein abschätziges Schnaufen. Dora kümmerte das nicht. Sie hatte die Base nicht gebeten, sie zu begleiten. Dennoch ließ Mathilda seit Anbruch der Reise vor fünf Tagen kaum eine Gelegenheit aus, ihr Verhalten zu missbilligen. Längst schenkte Dora ihr nur noch die notwendigste Beachtung.
Im Licht der Abendsonne entfaltete die Marienburg ihren kolossalen Zauber. Das satte Rot der trutzigen Backsteinmauern und Türme verschmolz mit dem warmen Gelbrot des sinkenden Sonnenballs zu einem stimmigen Farbenspiel, wie Dora es bislang nie gesehen hatte. Weit strahlte dieses besondere Gemisch in die Ebene aus, die vom sommerlichen Grün der Felder bis hinauf in das abendliche Glühen des Firmaments reichte. Mehr als einmal schimmerte darin Bernstein auf. Es war, als dränge das Gold der Ostsee bis in höchste Himmelssphären.
Noch beeindruckender als diese Farbenpracht erschienen Dora alsbald die Ausmaße der ehemaligen Ordensburg, die sich seit gut einhundert Jahren im Besitz der polnischen Krone befand. Dass die Könige aus dem Haus der Jagiellonen die Residenz nur selten aufsuchten, und wenn, dann lediglich den alle Mauern und Zinnen überragenden Hochmeisterpalast bewohnten, war der Anlage schon von weitem anzusehen. Das noch unter dem ordensritterlichen Heerführer und späteren Hochmeister Heinrich Reuß von Plauen angelegte Bollwerk, bei dessen Bau Urahn Laurenz mit seinem Danziger Meister Jagusch beteiligt gewesen war, wies mittlerweile deutliche Lücken auf.
Hoch- und Mittelschloss dienten als Sitz der polnischen Verwaltung Preußens Königlichen Anteils, wie Veit Dora einmal erklärt hatte. Neben dem Starost und dem ihm unterstellten Burggrafen bewohnten der Schatzmeister der Provinz sowie der Marienburger Woiwode mitsamt ihrem Gefolge die Gebäude. Auf dem übrigen Burggelände wie in der Vorburg siedelten neben den einquartierten Burgmannschaften längst auch zahlreiche Handwerker und Kaufleute mit ihren Familien. Die umliegenden Wiesen dienten als Weide- und Ackerflächen, galt das Nogatdelta doch als sehr fruchtbares Land. So herrschte rund um die Burganlage ein munteres Getümmel, zumal der anbrechende Abend die Hütejungen gerade das Vieh sammeln und ins Innere der früheren Wehranlage treiben ließ.
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