Die Heimkehr by Schlink Bernhard

Die Heimkehr by Schlink Bernhard

Autor:Schlink, Bernhard
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 978-3-257-60037-7
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2014-05-14T04:00:00+00:00


[193] 17

Wir hätten die Rückfahrt wie die Hinfahrt an einem Tag schaffen können. Aber ich wollte da, wo die Großeltern gelebt hatten, Station machen. Ich wollte ihr Haus wiedersehen, die Tannen, den Apfelbaum, die Buchshecke, die Wiese und den Garten. Ich wollte am Ufer sitzen, aufs Wasser sehen und Schwäne und Enten füttern. Ich wollte hören, ob die Bahnhöfe einander die Abfahrt eines Zugs noch mit einem Glockenton anzeigten. Ich wollte Mutter die Welt vorführen, in der Vater aufgewachsen war. Vielleicht wollte ich sie damit auch überraschen, überrumpeln, aus ihrer Reserve locken, um ihre Kontrolle bringen. Jedenfalls sagte ich, wo wir waren, erst, als wir in der ›Sonne‹ abgestiegen, ausgepackt und geduscht hatten und vor dem Abendessen noch am See spazierten.

»Du hast gedacht, ich würde nicht auf die Orte achten, durch die wir fahren?« Sie sah mich spöttisch und herausfordernd an.

Ich antwortete nicht. Wir kamen zu einem kleinen Park an der Mündung des Dorfbachs in den See. »Hier haben Großvater und ich immer die Schwäne und Enten gefüttert.« Ich ging ans Wasser und holte die Tüte mit altem Brot aus der Tasche, das ich beim Essen gesammelt hatte, und wie [194] damals schwammen die Tiere heran, noch ehe ich die ersten Krumen hinausgeworfen, noch ehe ich das Brot auch nur klein gebrochen hatte. Wie damals gab es, als ich warf, ein Getümmel, schnappten die Schnellen, Starken den Schwachen, Langsamen die Krumen vor dem Schnabel weg und versuchte ich, durch gezieltes Werfen austeilende und ausgleichende Gerechtigkeit miteinander zu verbinden.

Als sie sah, was ich tat, lachte Mutter. »Willst du die Enten Gerechtigkeit lehren?«

»Großvater hat sich auch über mich lustig gemacht. So sei die Natur nun einmal: Die Starken kriegen mehr als die Schwachen, die Schnellen mehr als die Langsamen. Aber ich bin nicht die Natur.«

Mutter hielt mir ihre offene Hand hin, ich legte ein Stück trockenes Brot hinein, und sie brach es klein und warf die Krumen weit hinaus zu den Schwänen, zwei weißen Eltern und fünf hellbraunen Kindern. »Nur weil ich Schwäne mehr mag als Enten.«

»Hast du nie wissen wollen, wo Vater aufgewachsen ist?«

Sie hielt mir noch mal ihre offene Hand hin und warf den Schwänen noch mehr Krumen zu. »Ich weiß, wie es weitergeht: Wie war Vater eigentlich? Wie war es, als ihr euch getroffen, verliebt, geheiratet habt? Wie, als er gegangen, als er gestorben ist?« Sie schüttelte den Kopf. »Was meinst du, warum ich dir nichts erzählt habe? Ich mag nicht erzählen. Ich mag nicht. Ich hasse es.«

Sie redete so heftig, daß ich beinahe nichts mehr gesagt hätte. Ich kannte Mutters Heftigkeit; sie gab mir das Gefühl, ich müsse mit allem rechnen, jeder Gemeinheit, jedem Geschrei, jeder Gewalt, und es sei nur noch die [195] disziplinierende Struktur der Worte und der Sätze, die verhindere, daß es zum Äußersten kommt. Als ich ein Kind war, kam es manchmal zu Schlägen, die mir nicht wirklich weh taten, aber den Boden unter den Füßen wegzogen. Mutter schlug, als wolle sie mich abwehren, fortdrängen, loshaben. Wann immer sie heftig geworden war, war ich in Panik geraten.



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