Die Hebamme von Wien by Beate Maly
Autor:Beate Maly [Beate Maly]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783843711319
Herausgeber: Ullstein
veröffentlicht: 2015-06-07T16:00:00+00:00
33
LORENZO STOLPERTE ERSCHÖPFT in sein Zimmer in der Goldenen Gans und ließ sich auf sein Bett fallen. Er hatte mit Graf Starhemberg und Ingenieur Rimpler über den Einsatz von Kindern in den Schächten und Gräben unter der Stadtmauer diskutiert, jetzt fühlte er sich ausgelaugt. Er hatte nichts erreicht, seine Bedenken und Bitten waren auf taube Ohren gestoßen. Der Einsatz von Kindern war eine beschlossene Sache. Keiner der verantwortlichen Männer fand es verwerflich, Minderjährige für diese gefährlichen Arbeiten heranzuziehen. Am Nachmittag hatte er sich erkundigt, wer der Junge gewesen war, den man geköpft hatte. Es war nicht Hannes gewesen, so viel stand fest. Lorenzo schloss die Augen, er wollte den Tag und den Krieg vergessen und mit ihnen auch die Erinnerung an Anna und an seinen Vater und an alles, was in den letzten Tagen an Unannehmlichkeiten über ihn hereingebrochen war.
Plötzlich wurde die Tür zu seinem Zimmer aufgestoßen. Rudolf schaffte es nicht mehr ins Zimmer, er brach noch auf der Türschwelle zusammen. Augenblicklich sprang Lorenzo auf, eilte zu seinem Freund und zerrte ihn zum Bett. Rudolf atmete kurz und flach, sein Puls raste und sein Herz drohte seine Brust zu sprengen. Er war völlig durchnässt und mit Schlamm und Blut verschmiert.
»Ich, ich …«, stammelte er, doch Lorenzo bat den Freund, nicht zu sprechen.
»Später. Ich hole zuerst Hilfe.«
Rudolf ergriff mit einer Kraft, die man ihm nicht mehr zugetraut hätte, Lorenzos Unterarm und schüttelte langsam den Kopf. »Es ist zu spät, hol deinen Grafen, bitte!«
Lorenzo wägte alle Möglichkeiten ab. Er kannte Rudolf und fürchtete, dass er recht hatte. Diesmal hatte das Glück ihn verlassen.
»Ich hole Pater Anselm«, sagte Lorenzo.
»Nein!«, entgegnete Rudolf scharf. »Es ist wichtig, ich bitte dich inständig, bitte hol deinen Grafen. Vielleicht hängt die Zukunft der Stadt davon ab.«
Lorenzo riss sich los. Seine Müdigkeit war verflogen. Er polterte die Stufen hinunter in die Wirtsstube und lief zum Palais Starhemberg. Der Regen hatte langsam nachgelassen, aber die Straßen waren immer noch nass, so dass Lorenzos Waden mit schlammigem Wasser bespritzt wurden. Er lief an der Hofburg vorbei, durch einen düsteren Torbogen und gelangte schließlich zum Palais des Grafen. Lorenzo verlangte, augenblicklich vorgelassen zu werden.
Später sollte er sich für diese Entscheidung hassen. Der Weg ins Franziskanerkloster wäre der bessere gewesen.
Zögernd gestattete der Hausdiener dem jungen Toskaner den Eintritt ins Arbeitszimmer des Grafen. Starhemberg saß gemeinsam mit Georg Rimpler, dem Bürgermeister Liebenberg und einigen hochrangigen Offizieren rund um einen großen Tisch, auf dem eine Karte von Wien ausgebreitet war. Lorenzo erkannte die Stadtmauer, die Basteien und das Glacis. Rimpler hatte den Plan mit Linien, Kreisen und anderen Zeichen, die Lorenzo nichts sagten, bemalt.
Ungehalten stand der Graf auf, sein rotgepolsterter Sessel wackelte bedenklich, blieb aber stehen und fiel nicht um: »Ich hoffe, es handelt sich um eine wichtige Sache, dass Ihr mich aus dieser Besprechung holt.«
»Rudolf Geiger liegt im Sterben und will Euch unbedingt sprechen«, sagte Lorenzo. Es fiel ihm schwer, die Worte auszusprechen, aber er wusste, dass sie der Wahrheit entsprachen. Nie zuvor war ihm der Krieg so sinnlos erschienen, und noch nie hatte er sich sehnlicher gewünscht, einer sinnvolleren Tätigkeit nachzugehen.
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