Die Grauen Seelen by Claudel Philippe

Die Grauen Seelen by Claudel Philippe

Autor:Claudel, Philippe [Claudel, Philippe]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783499243752
Amazon: 349924375X
Herausgeber: Rowohlt Taschenbuch Verla
veröffentlicht: 2006-10-30T23:00:00+00:00


XV

Wir haben vier Stunden bis V. gebraucht. Das Pferd blieb im aufgeweichten Untergrund stecken. Die Wagenspuren waren tief wie Bäche. Der schmelzende Schnee setzte die Straße unter Wasser, das später in die Abflussgräben floss. Nicht zu reden von den unzähligen Konvois, die zu Fuß, auf Fuhrwerken und Lastwagen zur Frontlinie zogen und die man vorbeilassen musste, indem man sich so eng wie möglich am Straßenrand zusammendrängte. Die Soldaten sahen uns mit melancholischen Augen an.

Keiner rührte sich, keiner sagte ein Wort. Sie wirkten wie fahle, blau gekleidete Tiere, die sich ergeben zum großen Schlachthof führen ließen.

Crouteux, Richter Miercks Schreiber, hieß uns in einem mit roten Seidentapeten bespannten Vorzimmer Platz nehmen und ließ uns allein. Dieses Zimmer kannte ich gut. Ich hatte schon öfter das Vergnügen gehabt, darin über die menschliche Existenz, die Langeweile oder die Bedeutung einer Stunde, einer Minute, einer Sekunde zu brüten, und mit geschlossenen Augen hätte ich, ohne Zögern und ohne mich zu irren, den Standort jedes Möbelstücks, jedes Gegenstandes und die Anzahl der Blütenblätter jeder getrockneten Anemone, die in einer Steingutvase auf dem Kaminsims schmachtete, auf einem Blatt Papier aufzeichnen können. Josephine döste, die Hände auf den Schenkeln. Von Zeit zu Zeit sank ihr der Kopf auf die Brust, dann fuhr sie wieder hoch, wie unter der Wirkung eines elektrischen Schlags.

Nach einer Stunde kam Crouteux endlich zurück, um uns abzuholen, und kratzte sich dabei leicht die schorfige Wange. Dünne Streifen abgestorbener Haut rieselten auf seinen schwarzen Anzug, der an den Knien und den Ellbogen speckig glänzte. Wortlos ließ er uns ins Büro des Richters treten.

Zunächst konnte man nichts sehen, hörte aber zwei verschiedene Arten von Gelächter. Das eine, das derb klang, wie wenn jemand ausspuckte, war mir vertraut. Das andere war mir neu, aber ich sollte es schnell kennen lernen. Stinkende Rauchschwaden standen im ganzen Raum und bildeten eine Wand zwischen dem dicken, an seinem Schreibtisch sitzenden Richter und dem Mann, der neben ihm stand, sowie uns Eingetretenen, die wir nicht wussten, was wir tun sollten. Dann gewöhnten unsere Augen sich nach und nach an die dicke Suppe, und die Gesichter des Richters und seines Gefährten schälten sich aus dem Nebel. Es war Matziev. Er lachte weiter und mit ihm der Richter, als wären wir nicht da, als stünden wir nicht zu dritt vor ihnen. Der Oberst zog an seiner Zigarre. Der Richter hielt sich den Bauch. Dann ließen alle beide ihr Gelächter langsam ausklingen, ohne sich übermäßig zu beeilen. Es entstand eine Stille, die ebenfalls andauerte, und erst in diesem Augenblick richtete Mierck seine dicken grünen Fischaugen auf uns.

Der Oberst tat es ihm gleich, behielt jedoch, zusammen mit der Zigarre, ein feines Lächeln im Mund, das uns in kürzester Zeit zu kleinen Würmern schrumpfen ließ.

«Ja bitte. Worum geht's denn?», sagte der Richter in gereiztem Tonfall und musterte dabei Josephine, als hätte er ein Tier vor sich.

Mierck mochte mich nicht und ich ihn auch nicht. Unsere Berufe brachten es mit sich, dass wir uns ziemlich häufig begegneten, aber niemals wechselten wir ein überflüssiges Wort. Unsere Unterhaltungen waren knapp, immer frostig, und wir sahen uns kaum an dabei.



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