Die Geschichtensammlerin by Jessica Kasper Kramer
Autor:Jessica Kasper Kramer
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
veröffentlicht: 2020-03-25T09:59:10+00:00
Der erste Schnee
Mamaie war fürchterlich abergläubisch, doch das war nicht immer so gewesen. Als ich krank war, regte sie sich schon auf, wenn ich nur meine Fingernägel ansah oder mich mit dem Gesicht zur Wand drehte. Und auf streunende Hunde ging sie mit dem Besenstiel los, als wäre es der Gottseibeiuns persönlich.
»Ich will kein böses Omen im Haus«, klagte sie. »Da darf man nicht nachlassen.«
Und wenn jemand sagte, ich sei hübsch, und mich nicht gleich dafür bestrafte, indem er mir in die Wangen kniff oder dergleichen, dann bekam sie einen Anfall. In ihrer Vorstellung war das nämlich wie ein Fluch, der von nun an auf mir lastete.
»Hat dir deine Mutter eigentlich gar nichts beigebracht?«, fragte sie und knüpfte mir vorsichtshalber ein rotes Halsband, damit ich vor dem bösen Blick geschützt war.
Ich durfte keine Kerzen auspusten und im Haus nicht laut pfeifen. Wenn ich ihr Blumen mitbrachte, dann gefälligst nur in ungerader Zahl, denn gerade Zahlen brachten Unglück. Wenn ich mich an die Ecke des Tisches setzte, scheuchte sie mich in die Mitte, denn so an der Ecke würde ich nie einen Mann kriegen. Wenn sie nähte, hatte sie immer ein Stück Faden im Mund. Und wenn ihre Handfläche juckte, wurde sie unruhig. An Dienstagen durfte sich niemand die Haare waschen.
»Und wenn du weggehst, Ileana, das ist ganz, ganz wichtig, dreh dich um Gottes willen nicht um.« Dies schärfte sie mir immer wieder ein.
Ich hielt diese VorsichtsmaÃnahmen eher für einen SpaÃ, doch Mamaie war es bitterernst damit. Vor allem waren sie derart kompliziert, dass man nie alles richtig machen konnte. Zum Beispiel beim Putzen den Aufnehmer mit dem Fuà hin und her wischen: böse. Und allemal Grund genug für Mamaie, dazwischenzugehen und dem Bösen mit allerlei StoÃgebeten entgegenzuwirken. Manchmal dachte ich, sie ist lala, erst bei Erntedank begriff ich die tiefere Wahrheit hinter allem.
In den Bergen kommt der Herbst früher als in der Stadt. Schon kurz nach Schulanfang hatten wir den ersten Frost, und Raureif überzuckerte die abgeernteten Felder. Zu Erntedank am ersten Oktober gab es im Dorf ein groÃes Fest. Der Morgen war frisch, und ein scharfer Wind trieb das feuchte Laub vor sich her. Die Männer errichteten auf dem Dorfplatz groÃe Feuer, und die Frauen waren schon seit dem frühen Morgen mit Brotbacken zugange. Ãberall roch es nach frischem Brot, hausgemachten Würsten und Ofenkürbis.
Sanda kochte eine Kuttelsuppe mit Rinderhaxen, Knoblauch und Essig. Mamaie machte ihre traditionellen PflaumenklöÃe, aber da ich keine Pflaumen mochte, gab es für mich auch solche mit gesüÃtem Frischkäse und Puderzucker. Es war erstaunlich, was dieses arme Dorf alles auf den Tisch zauberte. Da Sonntag war und ich nicht zur Schule musste, half ich überall mit, aber das reichte mir nicht. Ein merkwürdiges Zugehörigkeitsgefühl bewegte mich, auch etwas aus meinem Jahr beizusteuern. Durch Zufall hatte ich das Stückchen Schokolade wiedergefunden, mit dem ich einst hergekommen war. Es war zugegeben schon etwas weià an den Rändern, aber ansonsten tadellos. Ich zeigte es Mamaie.
»Keine Ahnung, was ich mit der Schokolade machen soll«, sagte ich. »Es ist zu wenig, um es mit dem ganzen Dorf zu teilen.
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