Die Funktionale Verhaltensanalyse by Michael Borg-Laufs
Autor:Michael Borg-Laufs
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783658308124
Herausgeber: Springer Fachmedien Wiesbaden
3.2 Schwerer zu verstehendes Verhalten
Die Beispiele des vorhergehenden Abschnittes waren unmittelbar verständlich. Uns ist sofort klar, dass der angenehme Geschmack von SüÃigkeiten und das wunderbare Gefühl beim Faulenzen verstärkenden Charakter haben, denn das sind Konsequenzen, die für viele Menschen â wohl auch für die meisten von uns â verstärkenden Charakter haben. In Beratung und Therapie werden wir aber oft mit Verhaltensweisen konfrontiert, die auf den ersten Blick nur aversiv erscheinende Konsequenzen haben und die dennoch aufrechterhalten werden. In diesen Fällen müssen wir die individuelle Verfasstheit der Patient*innen oder Ratsuchenden genauer in den Blick nehmen. Die überdauernden Dispositionen innerhalb der Person â die Organismusvariable â werden uns erst helfen, dieses Verhalten zu verstehen.
So könnten Sie zum Beispiel im Gespräch erfahren, dass Ihr Patient, ein heterosexueller, ungebundener junger Mann, sich immer sehr abweisend und unfreundlich verhält, wenn er erlebt, dass eine junge Frau sich ihm freundlich flirtend zuwendet. Er beklagt sich, so ja nie eine Partnerin bekommen zu können. Eine erste funktionale Analyse mit den situativen Bedingungen lässt das Verhalten aus lerntheoretischer Sicht unverständlich erscheinen. Die freundliche Ansprache durch die junge Frau (S) wird von ihm also regelmäÃig mit schroffem, abweisendem Verhalten (Rmot) beantwortet. Ãber seine Gefühle (Rem) und Gedanken (Rkog) in der Situation kann der Patient im ersten Gespräch keine Antwort geben, weil er noch nie darauf geachtet und auch einen schlechten Zugang zu seinen Gefühlen hat. Im Ergebnis wenden sich die zunächst kontaktwilligen Frauen aber regelmäÃig von ihm ab. Er hat also viele Chancen vertan, es folgt kein angenehmes Gespräch, keine selbstwertstärkende Erfahrung des Gemocht-werdens, kein weiteres freundliches Lächeln, von weitergehenden Chancen, die in der Situation noch liegen könnten, ganz zu schweigen. All diese Konsequenzen können wir als È»+ (negative Bestrafung) interpretieren: Eigentlich zu erwartende positive Konsequenzen werden nicht folgen. Damit ergibt sich zwingend aus der Lerntheorie, dass das Verhalten immer unwahrscheinlicher werden müsste. Dass dies aber nicht so ist, bedeutet, unsere Analyse kann noch nicht vollständig sein.
Bei einem weiteren Gespräch über seine Lebensgeschichte erfahren Sie unter anderem, dass Ihr Patient frühkindlich mehrere Bindungsabbrüche durchleiden musste. Seine junge Mutter, die wohl mit der Erziehung eines Kindes überfordert war, hat ihn in seinen ersten 10 Lebensmonaten betreut, bis sie es nicht mehr schaffte und ihn ihrer Mutter gab. Er lebte dann ein Jahr, in dem er seine Mutter nur selten zu Gesicht bekam, bei seiner Oma. Dann kam es zu einem massiven Streit zwischen Mutter und Oma, woraufhin die Mutter ihn wieder zu sich nahm und den Kontakt zur Oma gänzlich abbrach. Die Oma informierte das Jugendamt. Aufgrund der ungenügenden Erziehungsfähigkeit der Mutter wurde eine Sozialpädagogische Familienhilfe installiert, aber nach einem halben Jahr zeigte sich, dass die Mutter es auch mit Hilfe nicht schaffte. Ihr Patient kam zur weiteren Diagnostik in eine Kurzzeitpflegefamilie, geplant waren nur wenige Wochen, bevor ein fester Lebensort gefunden werden sollte. Unglücklicherweise zog sich diese Phase aber über 10 Monate, in der er in der Kurzzeitpflegefamilie lebte. Er kam dann für ein Jahr in ein Kinderheim, bevor er im Alter von nunmehr vier Jahren in eine Dauerpflegefamilie
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