Die Freude und der Tod by Grosser Alfred
Autor:Grosser, Alfred
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Sachbücher/Geschichte/Biographien, Autobiographien
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2015-03-06T16:00:00+00:00
Gebildete und Eingebildete
Was ist nun Kultur schlechthin? Im Januar 1984 veröffentlichte der Stern eine ausführliche Umfrage des Allensbacher Instituts. Zwei Fragen haben mich in ihrem Zusammenhang auf Dauer beeindruckt. «Was gehört nach Ihrer Meinung unbedingt zur Kultur?» Antwort: Goethe 84,5 Prozent, Mozart 80,2 Prozent, Fernsehen und Video 10,6 Prozent. – «Was machen Sie am liebsten in Ihrer Freizeit?» Fernsehen 66,9 Prozent. Nach Goethe und Mozart wird nicht weiter gefragt. Daher meine unseriöse Definition der Kultur: etwas, dessen Gebrauch man anderen anvertraut!
Goethe und Mozart gehören dazu, gewiss. Aber nur Goethe und Mozart? Seit 1968 die französische Übersetzung des italienischen Buches Lettre à une maîtresse d’école par les élèves de l’école de Barbiana (deutsch: Die Schülerschule von Barbiana. Brief über die Lust am Lernen, Wagenbach 1970) erschien, beziehe ich mich gern auf dessen Inhalt. Die Kinder sagen ihrer Lehrerin, sie werfe ihnen vor, nicht kultiviert zu sein, weil sie nicht wüssten, ob Minerva die Tochter oder die Mutter Jupiters sei. Aber die Lehrerin wisse nichts von dem Arbeitsvertrag, der die Väter der Schüler an die nahe Fabrik bindet. Also sei sie auch unkultiviert. Genau diese Auffassung haben wir stets in unserer deutsch-französischen Kulturarbeit der Nachkriegszeit vertreten. Das Nachbarland kennen heißt nicht nur, von seiner Literatur und Musik zu wissen, sondern auch von seiner Gesellschaft, seiner Wirtschaft, seinen im Allgemeinen nicht als der Kultur zugehörig betrachteten Realitäten. Dies aus mindestens zwei Gründen. Die Kultur der schönen Künste hat noch nie Kriege verhindert. An der Jahrhundertwende 1900 war die Wagner-Begeisterung in Frankreich noch größer als in Deutschland. Von 1914 bis 1918 haben sich dann die französischen und deutschen Wagnerianer gegenseitig fröhlich totgeschossen. Der andere Grund ist auch im Barbiana-Buch beschrieben. Eine Untersuchung in einer Nachbargemeinde hatte gezeigt, dass die Sitzenbleiber nach ihrer sozialen Herkunft einzuteilen waren. «Als die Lehrer diese Tabelle sahen, sagten sie, sie fühlten sich in ihrer Ehre als unparteiische Prüfer beleidigt. Die Lehrerin, die am schärfsten protestierte, sagte, sie hätte nie versucht, etwas über die Familien ihrer Schüler zu erfahren. ‹Wenn eine Arbeit eine Fünf verdient, schreibe ich eine Fünf darunter.› Die Arme begriff nicht, dass man ihr genau das vorwarf, denn nichts ist ungerechter, als Ungleiche gleich zu behandeln.» Die Lehrerinnen und Lehrer haben sich seitdem sehr verändert, aber ich erzählte diese Geschichte bei einer Elternversammlung, die ich als Vorsitzender des Elternvereins der benachbarten Grundschule einberufen hatte. Ich hatte einen Schulpsychologen eingeladen. Eine ziemlich vornehme Mutter fragte, nach welchen Kriterien er die Kinder beurteile. Das könne er nicht so einfach beantworten. «Wenn Ihr Sohn mittelmäßige Resultate vorweist und der Sohn Ihres spanischen Dienstmädchens» – sie sah so aus und sprach so, als habe sie eins – «ähnliche, so beweist das, dass dieser Junge mehr Talent hat als Ihr Sohn.» Hat sich seitdem wirklich viel verändert? Im Juni 2010 wird nach einem deutschen nationalen Bildungstest bekannt, dass Akademikerkinder fünfmal höhere Chancen haben als Arbeiterkinder, aufs Gymnasium zu kommen.
Andere Tests sollten beweisen, dass Anwärter auf die deutsche Staatsangehörigkeit eine ausreichende Bildung hatten. Dabei bestätigten die Beamten, die die Fragen zusammenstellten, die Richtigkeit einer meiner Lieblingsformulierungen: «Die Gebildeten sind oft nur die Eingebildeten.
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