Die Flucht des Monsieur Monde: Ausgewählte Romane (German Edition) by Simenon Georges
Autor:Simenon, Georges [Simenon, Georges]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Kriminalliteratur
ISBN: 9783257604955
Herausgeber: Diogenes Verlag AG
veröffentlicht: 2013-12-17T23:00:00+00:00
6
Es war eine bittersüße Empfindung wie jene Art von Schmerzen, die man sorgfältig hegt und pflegt, weil man wünscht, dass sie nicht vergehen. Monsieur Monde verspürte weder Wut noch Aufbegehren, auch keine Reue. Im Alter von vierzehn oder fünfzehn Jahren, als er das Collège Stanislas besuchte, hatte er nach einer Zeit des Fastens eine tiefe mystische Phase durchlebt. Auf der Suche nach Vollkommenheit hatte er seine Tage und einen Teil seiner Nächte mit spirituellen Übungen verbracht, und zufällig hatte er eine Fotografie aus jenen Tagen aufbewahrt, die ihn in einer Gruppe zeigte, denn damals hätte er es abgelehnt, sich allein porträtieren zu lassen. Er war abgemagert und sah ein wenig leidend aus, und sein Lächeln war von einer Sanftheit, die er später, als die Phase vorbei war, unerträglich fand.
Ein andermal, viel später, nach seiner zweiten Heirat, hatte seine Frau ihm zu verstehen gegeben, dass der Atem eines Rauchers sie abstieß. Er hatte nicht nur das Rauchen aufgegeben, sondern auch keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt, nicht einmal Wein. Aus dieser Kasteiung schöpfte er eine wilde Befriedigung, und auch diesmal nahm er ab, so dass er nach drei Wochen den Schneider aufsuchen musste, um seine Kleider enger machen zu lassen.
Jetzt war es nicht mehr wichtig, ob seine Kleider saßen oder nicht; innerhalb von zwei Monaten aber hatte er wesentlich mehr abgenommen, und er fühlte sich dadurch agiler. Und obgleich sein Teint nun nicht mehr rosig, sondern grau war, betrachtete er sein Gesicht, wenn überhaupt, mit Wohlgefallen und las darin nicht nur eine ruhige Heiterkeit, sondern geradezu eine geheime Freude, eine gleichsam krankhafte Lust.
Das Schwierigste war, gegen den Schlaf anzukämpfen. Er war immer ein starker Esser gewesen und sah sich jetzt beispielsweise genötigt, um vier Uhr morgens eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen, um nicht einzunicken.
Um diese Stunde spürte man auch, wie sich die allgemeine Müdigkeit im ›Monico‹ wie Staub herabsenkte. Zum zweiten Mal war Monsieur René, der künstlerische Leiter, wie er sich selbst nannte, in den Anrichteraum getreten, untadelig in seinem Smoking, die Hemdbrust makellos, die Zähne grellweiß.
Monsieur Monde hatte ihn durch den Saal näher kommen sehen, denn direkt neben ihm war in der Wand in Höhe seines Ohres ein winzig kleines rundes Guckloch, durch das er nicht nur die Gäste, sondern auch das Personal überwachen konnte.
Monsieur René ließ es sich nicht nehmen, im Vorübergehen huldvoll wie ein Souverän nach links und rechts zu lächeln. Er schritt im warmen Licht des Tanzlokals dahin, auf die zweiflügelige Schwingtür zu, die auf der einen Seite mit rotem Samt bezogen, auf der anderen einfach und schmutzig war, und genau in dem Moment, da er sie mit routinierter Geste aufstieß, verschwand sein Lächeln, und die prachtvollen Zähne waren nicht mehr zu sehen. Sein Haar war fast glatt, doch die bläulichen Fingernägel verrieten seine Abstammung aus Martinique.
»Wie spät ist es, Désiré?«
In einem Etablissement, wo alles darauf ankommt, dass man die Zeit vergisst, hängt schließlich keine Uhr an der Wand.
Mit Désiré war Monsieur Monde gemeint. Er hatte diesen Namen selbst gewählt. Désiré Clouet. Er war darauf gekommen, als
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