Die Erben des Terrors (German Edition) by Johannes C. Kerner

Die Erben des Terrors (German Edition) by Johannes C. Kerner

Autor:Johannes C. Kerner [Kerner, Johannes C.]
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi
veröffentlicht: 2014-03-07T23:00:00+00:00


06. Juni 1964

70° 58’ 59.49” Nord, 94° 35’ 02.88” Ost

Irgendein Gulag in Sibirien, 650 Kilometer nördlich von Turuchansk, Sowjetunion

Vera Baranskaya konnte es immer noch nicht fassen, was passiert war, als sie die Soldaten von der Ladefläche des Lasters schubsten. Noch vor drei Tagen hatte sie im Vorzimmer des Ministerpräsidenten streng geheime Dokumente abgetippt, und heute war sie hier, im schlimmsten Gulag der Sowjetunion. Sie wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte, um das zu verdienen. Sie war jeden Morgen pünktlich bei der Arbeit, immer ordentlich und adrett angezogen, sie machte nicht einen Tippfehler. Sie bewahrte sogar immer einen Durchschlag jedes Dokuments auf, für den Fall, dass ein wichtiger Brief oder ein offizielles Dokument verlorenging.

Die Durchschläge der letzten von ihr getippten Schreiben, sinnlose Buchstabenreihen in jeweils zweifacher Ausfertigung, und Einsatzbefehle für den Angriff auf amerikanische Städte sowie ein Memorandum für den Obersten Sowjet und dessen Nachfolger, waren noch in ihrer Aktentasche, dem einzigen Besitz, den sie noch hatte. Die Soldaten hatten sie am Schreibtisch abgeholt und direkt in einen Zug gesetzt. Sie hatte seit zwei Nächten nicht geschlafen. Sie hatte Angst.

„Нет карманов!“, schrie sie einer der Soldaten an und riss ihr die Aktentasche aus den Armen. Sie weinte noch schlimmer, als sie es die letzten Stunden getan hatte. Der Soldat warf die Tasche auf einen Haufen hinter ihm und schubste die Frau weiter. Sie fiel hin, weinend. Er schrie sie wieder an, „встать!“, aber sie stand nicht auf, schluchzte nur. Der Offizier hinter ihm, Major Oleg Polevoy, stellte sich neben ihn.

Polevoy sah die Frau auf dem Boden an, sie sah deutlich besser aus als die üblichen Ankömmlinge. Ihre Kleidung war gut, teuer sogar, ihre Haare weitgehend gepflegt, nur ungewaschen von der Reise. Und Polevoy brauchte eine neue Haushälterin, die letzte war, nun ja, ihren Aufgaben nicht mehr gewachsen gewesen und er hatte sie am Vorabend erschießen lassen.

„Fräulein?“, fragte er, sich zu ihr herunterbeugend. Sie unterbrach ihr Schluchzen kurz, drehte ihren Kopf zur Seite und sah ihn an.

„Können Sie einen Haushalt führen?“, fragte er.

Sie riss sich zusammen und versuchte, aufzustehen. Mit dem letzten Stolz, den sie noch hatte, sagte sie „Herr Major, ich konnte das Sekretariat des Ministerpräsidenten führen, ein Haushalt ist das kleinere Übel“.

Polevoy musste lautstark lachen, eine so dämliche Lüge hatte er noch nie gehört. Aber die Art der Frau gefiel ihm. Er wies den Soldaten an, sie in die Kammer neben seiner Hütte zu bringen. „Herr Major, meine Tasche“, sagte die Frau.

„Wie ist Ihr Name, Fräulein?“, fragte Polevoy und unterdrückte den Wunsch, sie zu erschießen. Er brauchte wirklich eine Haushaltshilfe.

„Vera. Vera Baranskaya.“

„Nimm Deine Tasche, Vera, und sei still!“



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