Die Chroniken des Aufziehvogels by Murakami Haruki

Die Chroniken des Aufziehvogels by Murakami Haruki

Autor:Murakami, Haruki [Murakami, Haruki]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783832170479
Herausgeber: Dumont


16.DAS EINZIG SCHLIMME IN MAY KASAHARAS HAUS

MAY KASAHARAS BETRACHTUNGEN ÜBER DIE HITZE

»Hallo, Herr Aufziehvogel«, sagte eine weibliche Stimme. Den Hörer am Ohr, warf ich einen Blick auf die Uhr. Vier Uhr nachmittags. Ich war auf dem Sofa eingeschlafen und völlig verschwitzt aufgewacht, als das Telefon klingelte. Mein Schlaf war kurz und unangenehm gewesen. Zurückgeblieben war ein Gefühl, als hätte jemand die ganze Zeit über auf mir gesessen. Irgendwer hatte gewartet, bis ich eingeschlafen war, sich auf mich gesetzt und war kurz vor meinem Erwachen wieder verschwunden.

»Hallo?«, flüsterte die Stimme, die klang, als käme sie aus dünner Luft. »Hier ist May Kasahara.«

»He«, sagte ich. Meine Sprechwerkzeuge funktionierten noch nicht richtig, weshalb ich nicht wusste, wie ich mich durchs Telefon anhörte. Immerhin hatte ich etwas gesagt, auch wenn dabei vielleicht nur ein Ächzen herausgekommen war.

»Was machen Sie gerade?«

»Nichts«, sagte ich. Ich hielt den Hörer ein Stück von mir weg und räusperte mich. »Nichts, ich habe einen kurzen Mittagsschlaf gehalten.«

»Habe ich Sie geweckt?«

»Hast du, macht aber nichts. Es war nur ein Nickerchen.«

May Kasahara schien zu zögern. »Herr Aufziehvogel? Hätten Sie Lust, zu mir rüberzukommen?«, fragte sie dann.

Ich schloss die Augen. Bunte Lichter tanzten in der Dunkelheit.

»Kann ich machen.«

»Ich liege im Garten und sonne mich. Kommen Sie einfach rein.«

»Einverstanden.«

»Herr Aufziehvogel? Sind Sie sauer auf mich?«

»Keine Ahnung«, sagte ich. »Auf alle Fälle dusche ich jetzt, ziehe mich an und komme zu dir rüber. Ich habe etwas mit dir zu besprechen.«

Nachdem ich mich zuerst kalt abgeduscht hatte und wieder klar im Kopf war, nahm ich eine heiße Dusche und zum Schluss noch einmal eine kalte. Jetzt war ich wieder wach, aber mein Gefühl von Schwäche war nicht verschwunden. Beim Duschen hatten mir ein paarmal die Knie gezittert, sodass ich mich am Handtuchhalter festhalten und mich auf den Wannenrand setzen musste. Vielleicht war ich erschöpfter, als ich dachte. Während ich beim Haarewaschen die Beule an meinem Hinterkopf befühlte, dachte ich an den jungen Mann, der mich in Shinjuku umgestoßen hatte. Ich begriff nicht, was dieses Ereignis zu bedeuten hatte. Was in aller Welt brachte jemanden dazu, so etwas zu tun? Obwohl es erst gestern passiert war, kam es mir vor, als wäre es ein oder zwei Wochen her.

Nachdem ich mich abgetrocknet hatte, putzte ich mir die Zähne und musterte mein Gesicht im Spiegel. Der blauschwarze Fleck auf meiner rechten Wange war noch da. Er hatte sich weder verstärkt noch verringert. Ich hatte dunkle Ringe unter den Augen, und das Weiße war von roten Äderchen durchzogen. Meine Wangen waren eingefallen und meine Haare zu lang. Ich sah aus wie eine wiederauferstandene Leiche, die sich aus ihrem Grab herausgearbeitet hatte.

Ich zog ein frisches T-Shirt und Shorts an, setzte Mütze und Sonnenbrille auf und kletterte in die Gasse. Es war noch immer sehr heiß. Alles Leben sehnte sich nach einem abendlichen Schauer, aber es war keine Wolke am Himmel zu sehen. Die Luft in der Gasse war heiß und unbewegt. Wie üblich begegnete ich niemandem. Ich wollte sowieso nicht, dass jemand mich mit diesem Gesicht sah.

Im Garten des leeren Hauses starrte die Vogelstatue unverändert mit erhobenem Schnabel in den Himmel.



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