Die Brücke von Istanbul by Mak Geert

Die Brücke von Istanbul by Mak Geert

Autor:Mak, Geert [Mak, Geert]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2015-08-03T16:00:00+00:00


Das alte Osmanische Reich wurde weitgehend unter den Siegern aufgeteilt. Der griechische König durfte seine Träume von einem neuen Byzanz verwirklichen und seinem Land das ausgeblutete Anatolien einverleiben, unter der Bedingung, dass er mit den »Räuberbanden« der Jungtürken abrechnete. Diese konnten jedoch unter der Führung Mustafa Kemal Paschas die griechische Invasionsarmee vernichtend schlagen. Am 29. Oktober 1923 riefen sie die Türkische Republik aus. Ihre Hauptstadt: Ankara. Nach mehr als eintausendfünfhundert Jahren wurde Istanbul plötzlich auf den zweiten Platz verwiesen. Vielleicht müsse sich das ganze Schwarze Meer in den Bosporus ergießen und alles überschwemmen, meinte Mustafa Kemal, um die Stadt von Schmutz, Heuchelei, Lügen und Amoralität zu reinigen. Die Grande Rue de Pera wurde gleich in Istiklâl Caddesi umbenannt: Unabhängigkeitsstraße.

Die neue Regierung nahm eine Art Revolution von oben in Angriff. Ende 1925 wurden der Fez – »dieses Symbol der Unwissenheit, der Nachlässigkeit, des Fanatismus und der Abneigung gegen Zivilisation und Fortschritt« – und andere traditionelle Kleidungsstücke gesetzlich verboten. Statt des Fezes war nun etwa ein Hut zu tragen, »die Kopfbedeckung, derer sich die gesamte zivilisierte Welt bedient«.

Das war jedoch erst der Anfang eines einschneidenden Wandels. Einer der Schriftsteller dieser Stadt hatte seine türkischen Landsleute einmal mit den Worten »Ach, ihr Unseligen auf dem lautlosen Schiff nach Osten, die ihr nach Westen schaut!« beklagt. Dieser Zwiespalt wurde nun, zumindest offiziell, endgültig überwunden. Noch im Winter 1925 wurde der islamische Mondkalender durch den gregorianischen Kalender ersetzt. An die Stelle des jahrhundertealten osmanischen Rechtssystems – zu dem auch wesentliche Elemente des islamischen Rechts gehörten – trat das schweizerische Bürgerliche Gesetzbuch. Polygamie wurde für illegal erklärt. Die arabische Schrift wurde verboten, fortan war ausschließlich die lateinische zu verwenden. Der Sonntag ersetzte den Freitag als offiziellen Ruhetag. Die Frauen erhielten volles Stimmrecht, und alle Türken hatten einen eigenen Nachnamen zu wählen.

Außerdem sollte die Türkei ein ethnisch »reines« Land werden. Während des ersten Weltkriegs hatte der Schweizer Anthropologe und Völkerkundler Georges Montandon die Theorie der »Homogenisierung der Nationalstaaten« entwickelt: Um zukünftige internationale Konflikte wegen nationaler Minderheiten zu vermeiden, sei es notwendig, Nationen durch großangelegte »Transplantationen« von Bevölkerungsteilen zu »entmischen« und von allen nicht der jeweiligen »Nation« zugehörigen Elementen zu »säubern«. Griechenland und die Türkei gehörten zu den ersten Ländern, die diese Theorie, unter dem Druck des Völkerbunds, in die Praxis umsetzten. In ihrem Friedensvertrag von 1923 vereinbarten sie einen »Bevölkerungsaustausch«, eine wechselseitige »ethnische Säuberung«: Etwa 1,3 Millionen Griechen und fast eine halbe Million Türken wurden vom einen Land ins andere zwangsumgesiedelt. Nur die Griechen Istanbuls durften – vorläufig – bleiben.

Doch der tiefste Einschnitt war wohl die Säkularisierung der türkischen Nation. Ein modernes Land konnte nach Auffassung Atatürks und seiner Mitstreiter nicht gleichzeitig ein religiöses Land sein. Die Koranschulen wurden aufgelöst, die Derwischorden verboten und ihre Klöster geschlossen, das Kalifat aufgehoben.

Noch einmal bildete die Galatabrücke die Bühne für eine geschichtsträchtige Szene: Kurz vor seiner endgültigen Absetzung erhielt der letzte Sultan, der letzte Kalif, der letzte Thronerbe des osmanischen Herrscherhauses von einem britischen Polizisten ein Strafmandat, weil er auf der Brücke ein Automobil falsch überholt hatte. Der Strafzettel hängt noch heute in einem kleinen Rahmen irgendwo im Dolmabahçe-Palast, und das völlig zu Recht.



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