Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Zukunft by Erich Fromm

Autor:Erich Fromm [Fromm, Erich]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Fachbuch
ISBN: 978-3-95912-098-2
Herausgeber: Edition Erich Fromm
veröffentlicht: 2015-11-01T16:00:00+00:00

d) Übertragung und Charakter als zwei weitere Entdeckungen Freuds in ihrer zukunftsweisenden Bedeutung

Um angesichts der fortgeschrittenen Zeit noch ausführlich von den therapeutischen und klinischen Fragen der Psychoanalyse sprechen zu können, kann ich andere Entdeckungen Freuds nur verkürzt darstellen. Bei der Entdeckung der Übertragung hat sich im Vulgär-Freudianismus bald eine Reduktion der Übertragung auf die analytische Situation ergeben, bei der dann der Analytiker zum Vater wird, auf den die Eigenschaften des Vaters übertragen werden, wie sie das Kind erlebte. Durch diese Engführung wird leicht übersehen, dass nicht nur das Kind hilflos ist, sondern der erwachsene Mensch auf Grund der Bedingungen seiner Existenz ebenso hilflos ist [und darum zur Übertragung neigt]. Der Mensch wird – anders als das Tier – durch seine Triebe nicht dazu angehalten, in einer bestimmten Weise zu handeln; andererseits ist des Menschen Vernunft auch nicht stark genug, um ihm das richtige Handeln ohne weiteres zu vermitteln. Der Mensch ist vielmehr in einer ungeheuer hilflosen Lage, so dass ihm das Leben in der Tat etwas unendlich Schwieriges ist. Der Mensch erleidet nicht nur viele Verluste, und das Leben bringt nicht nur viele Traurigkeiten mit sich; der Mensch steht zudem jeden Tag vor Konflikten, die er eigentlich nicht lösen kann. Er ist sich der Gefahren bewusst; er ist sich seines Todes bewusst. Auf Grund der Bedingungen seiner Existenz ist der Erwachsene meines Erachtens in vieler Hinsicht hilfloser als das Kind.

Zu den mit der Existenz gegebenen kommen noch bestimmte historisch-gesellschaftliche Bedingungen, die den Menschen noch hilfloser machen. Deshalb sucht der Mensch nach einem Vater, nach einem magischen Helfer, nach einem Guru, nach einem Führer. Es ist eine der stärksten Tendenzen der menschlichen Natur, sich eine Figur zu suchen, die Sicherheit gibt, der man sich aber auch unterwerfen kann, indem man sie ganz groß macht, alles, was in einem ist, auf sie projiziert und dann diese Figur als einen Götzen, der einen beschützt, anbetet. Solche Figuren können der Vater sein oder Gott oder eine Idee oder das Vaterland oder ein politischer Führer oder – auch [XII-384] wenn dies heute seltener geworden ist als noch im Neunzehnten Jahrhundert – die große Liebe. Mit der großen Liebe meine ich nicht die echte, ruhige Liebe, sondern die hysterische, große, laute Liebe, bei der man versucht, das Absolute in einem anderen Menschen zu finden, um dann diesen Menschen zur Zuflucht seines Lebens zu machen.

Wenigstens kurz möchte ich über den Freudschen Begriff des Charakters sprechen, jener ungeheuer wichtigen Entdeckung, mit der Freud ein dynamisches Verständnis der Leidenschaften des Menschen möglich machte. Charakter ist für Freud ein relativ permanentes System der Leidenschaften des Menschen. Er begreift ihn also ähnlich wie die großen Schriftsteller, etwa wie Balzac, Dostojewski oder Shakespeare. Beim dynamischen Charakterbegriff geht es nicht um das Verhalten, nicht um eine behavioristische Beschreibung, sondern um das tiefere Sein eines Menschen, das dessen Denken und Tun bestimmt. Freud ist der Schöpfer einer dynamischen, wissenschaftlichen Charakterologie, bei der – anders als in anderen Charakterologien – der Charakter jenes motivierende System ist, das für alles Denken und Handeln verantwortlich ist.

Doch Freud hat auch diese große Entdeckung dadurch eingeengt, dass er diese Motivationen sexuell gefasst hat.

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