Die Auslese by Charbonneau Joelle

Autor:Charbonneau, Joelle [Charbonneau, Joelle]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Penhaligon Verlag
veröffentlicht: 2015-01-12T16:00:00+00:00

Kapitel 11

Mein Gesicht ist nicht das einzige, auf dem Tränen glänzen. Als ich mich umsehe, entdecke ich überall Studenten, die sich in kleinen Gruppen dicht zusammendrängen, die Augen weit aufgerissen vom Schock und der Trauer. Auf der anderen Seite der Brücke hat Sam aus dem Abschlussjahr den Arm fest um Olive gelegt, die am Rande der Schlucht kauert und immer wieder Rawsons Namen ruft. Das Entsetzen hat sich tief in ihre Gesichtszüge gegraben. Irgendwann wird aus dem Schreien ein Schluchzen; Sam bringt Olive dazu aufzustehen und führt sie zur Brücke.

Olive macht einen kleinen Schritt auf die metallene Überführung, reißt sich dann aber von Sam los und stürmt davon. Nicht über die Brücke hinweg zum Wohnheim, sondern zurück in die entgegengesetzte Richtung. Sam dreht sich um und sprintet ihr hinterher, aber Olive ist schneller als er und schon bald außer Sicht. Ob der Stoß nun absichtlich erfolgte oder ein Unfall war, aus Zorn oder aus dem Stress heraus – an Olives Reaktion lässt sich deutlich ablesen: Sie wollte niemals, dass Rawson in die Schlucht stürzt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie mit den Gewissensbissen weiterleben will, die dieser Tat folgen werden.

Leises Murmeln und Schniefen liegt in der Luft, während wir alle zum Horizont starren und darauf warten, dass Olive und Sam zurückkehren. Aber sie kommen nicht.

Irgendwann taucht auf unserer Seite der Brücke Vance auf, ohne Tränen in den Augen, und Professorin Holt tritt aus dem Schatten des Baumes in das schwächer werdende Sonnenlicht und fordert uns auf, näher zu kommen. »Eigentlich wollten wir heute Abend die Einweihungszeremonie abhalten. Im Licht dieser Tragödie verschieben wir sie jedoch auf morgen, sodass wir den Verlust von Rawson Fisk betrauern können. Dr. Barnes und ich werden zur Verfügung stehen, um mit denen zu sprechen, die Hilfe dabei benötigen, dieses entsetzliche Ereignis zu verkraften. Alle Führungskräfte werden irgendwann gezwungen sein, mit Tragödien umzugehen, aber wir bedauern es, dass Sie so früh in Ihrer Karriere damit konfrontiert werden. Bitte lassen Sie es einen Offiziellen wissen, wenn Sie Schwierigkeiten damit haben, diesen schrecklichen Verlust zu verarbeiten. Wir sind da, um Ihnen zu helfen.«

Dr. Barnes legt den Arm um ein weinendes Mädchen und führt sie ins Wohnheim. Er wirkt so, als wäre es ihm eine Herzensangelegenheit, die Studentin zu trösten, und aus seiner Haltung spricht nichts als einfühlsame Sorge. Als er jedoch an der trauernden Menschenmenge vorbeigeht, sehe ich die kalte Berechnung in seinen Augen. Speichert er in Wahrheit ab, welche Studenten weinen und welche sich beherrschen? Ist er vielleicht der Meinung, dass man durch Tränen zu einem besseren Anführer wird? Werden sich diejenigen, die auf der Suche nach Trost zu ihm kommen, später bei den am schlechtesten bewerteten Studenten wiederfinden, oder hält man sie für am ehesten geeignet für ein wichtiges Regierungsamt? Das lässt sich unmöglich sagen, und ich lege definitiv keinen Wert darauf hierzubleiben, um es herauszufinden.

Als Dr. Barnes und Professorin Holt im Gebäude verschwunden sind, mache ich mich auf den Weg in die entgegengesetzte Richtung. Weg von einer weiteren Bewertung, für die Rawsons Tod den Anlass bietet.

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