Dicht by Sargnagel Stefanie
Autor:Sargnagel, Stefanie
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783644001770
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2020-10-13T00:00:00+00:00
Michi hatte manchmal kein Handy und rief uns deshalb von dem Telefon, das immer bei ihm daheim am Boden stand, zu Hause auf dem Festnetz an. Das war günstiger. Den einen war das angenehmer als den anderen. Sarahs Mutter hatte ein Faible für exzentrische Freaks und plauderte gern mit Michi. Moritzâ Eltern halfen Michi sogar dabei, einen Handyvertrag abzuschlieÃen, und schenkten ihm eine neue Matratze. Samuel wollte überhaupt nicht, dass seine Eltern etwas über sein Leben wussten. Am liebsten wäre ihm gewesen, er hätte daheim nur mit seiner Katze sprechen müssen. Meine Mutter mochte diese Anrufe ganz und gar nicht. Es war ihr suspekt, wenn ich von Michi erzählte. Sie sagte: «Der Komische hat wieder angerufen. Wos wüdn der von dir?», und sah mich skeptisch an. Ihr war das alles nicht geheuer. Dabei musste sie das von meinem Vater gewohnt sein. Obwohl er nicht sehr präsent war (sie waren getrennt, seit ich klein war), hatte ich vieles von ihm geerbt. Er führte ein unstetes Leben, war ein Chaot und hatte früher allerlei «Originale» in unsere Wohnung gebracht. Er war zwar Arbeiter, aber die freakigen 70er Jahre waren trotzdem nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Meine Mutter hatte kein Faible für Sonderlinge. Sie mochte es geordnet und konventionell. Aber meinen Vater hatte sie offenbar sogar mal geliebt, obwohl er nichts Konventionelles an sich hatte, und mich mochte sie ja auch. Man schätzt Mütter da manchmal falsch ein, man kennt sie ja nur als Mütter und nicht als Menschen. Wenn ich etwas mehr aus Michis Wohnung erzählte, erkannten wir durchaus Gemeinsamkeiten. Thomas, zum Beispiel, ein älterer Typ, der manchmal bei Michi vorbeikam und uns ein bisschen unheimlich war, weil er dann nichts anderes machte, als uns Mädchen mit starren schwarzen Augen anzuglotzen, war einer der Klienten, die meine Mutter beruflich betreute. Einige Jahre später, als es Michis Wohnung nicht mehr gab, erfuhren wir, dass Thomas seinem Nachbarn ein Messer in den Bauch gestochen hatte, weil er so gestunken hatte.
Der blonde Herbert war eine Erscheinung, an die wir uns gewöhnt hatten. Wenn er bei Michi reinkrachte, reagierten wir achtsam, aber gelassen. Man musste ihn nur ein bisschen beschäftigen, damit er nichts Gefährliches machte, wie bei einem Kleinkind. Er wollte prinzipiell niemandem etwas Böses und haute immer wieder gute Sätze raus. Mein Lieblingssatz von ihm war: «Ameisen haben den urkleinen Penis!» Eines Tages brachte er uns aber doch wieder zum Staunen. Er kam durch den schmalen Gang in den Hauptraum, trugt ein langes, rosafarbenes Nachthemd und darüber seinen Laborkittel. «Hallo, Herbert», sagten die Leute, die herumsaÃen. Da hörte man es von Richtung der Wohnungstür weiterpoltern. Was war da los? Ein zweiter Mann kam dazu. Er war genauso riesig wie Herbert, hatte ein dürres Gesicht mit spitzen Wangenknochen. Seine schwarzen Haare standen wild in alle Richtungen ab, und er trug einen langen, dunklen Mantel. Er zog einen Einkaufstrolley hinter sich her, auf dem ein voll aufgedrehtes Radio montiert war, und er rief gepresst: «Hallo, ich bin der Herbert.» Alle in der Wohnung bekamen einen Lachanfall. Was
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