Deutschstunde: Roman (German Edition) by Lenz Siegfried

Deutschstunde: Roman (German Edition) by Lenz Siegfried

Autor:Lenz, Siegfried [Lenz, Siegfried]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Literatur
ISBN: 9783455810813
Herausgeber: HOFFMANN UND CAMPE VERLAG GmbH
veröffentlicht: 2012-10-03T22:00:00+00:00


12

Unterm Brennglas

Für vierzig Zigaretten, in meiner Lage, allein mit den Erinnerungen, die in meiner Strafarbeit zum Blühen gebracht werden sollen: da kann man doch nicht nein sagen. Außerdem sah Wolfgang Mackenroth kränklich aus, als er auf Zehenspitzen in meine Zelle kam, zumindest machte er einen geschwächten, nicht ganz fieberfreien Eindruck, und er schwankte leicht, als ich ihm die Jacke abklopfte, mit der er der Kalkwand in der großen Gemeinschaftstoilette zu nahe gekommen war. Die meisten Wände bei uns färben ab. Schweigender Händedruck. Eine anerkennende Geste für den Umfang meiner Strafarbeit, danach drehte er den, sagen wir ruhig, feinen Psychologenkopf zum Fenster, sah dort nach draußen, wo der Winter sich mit der Elbe beschäftigte, schon wieder einmal, wollte offensichtlich ein Wort über die Aussicht verlieren, unterdrückte es aber und bot mir statt dessen Grüße von Direktor Himpel an, mit dem er ja so gut wie befreundet war. Himpel hatte meinen Brief erhalten – er selbst, Wolfgang Mackenroth, war dabei, als der Direktor ihn öffnete, überflog, sich setzte und den Brief noch einmal las und danach nur Nötigung sagte, pädagogische Nötigung. Anstatt aber zu explodieren oder seinen Zorn bei einem Lied zu kühlen, zog er – immer nach Mackenroth – einige nachdenkliche, auch enger werdende Kreise durchs Zimmer, rotierte jedenfalls mit Gewinn und meinte, nachdem er zu seinem Schreibtisch zurückgefunden hatte, daß durch Nötigungen auch schon gute Resultate erreicht worden sind. Den Inhalt meines Briefes gab er nicht bekannt; da wußte ich schon, daß er meinen Wunsch, die Strafarbeit fortzusetzen, bewilligt hatte – auch über den Tag der Heiligen Drei Könige hinaus.

Alles, was ich Wolfgang Mackenroth anbieten konnte, war meine Bettkante, doch er wollte sich nicht setzen, weil er nicht bleiben wollte, es zog ihn nach Hause, aufs Festland, in sein möbliertes Zimmer nach Altona, in dem, wie er sagte, schon die acht Flaschen Bier bereitstanden, die ihm einen fünfzehnstündigen Tiefschlaf ermöglichen sollten. Er fühle sich überarbeitet. Erschöpft fühle er sich und, wie er mit leichten Schlägen gegen sein Rückgrat meinte, von innen ausgehöhlt.

Ob er seiner Wirtin, der Norddeutschen Meisterin am Schwebebalken, immer noch beim Heimtraining helfe, indem er ihre Haltung korrigierte? Ja, immer noch, aber er wolle jetzt nicht darüber sprechen. Ob er von ihrem Mann, einem Kranführer, immer noch gebeten werde, am Freitag einen Zwanzigmarkschein zu verstecken, den er am Sonntagmorgen wieder herausrücken müsse? Ja, immer noch, aber mehr wolle er jetzt nicht erzählen. Da bot sich die Frage an, warum er überhaupt gekommen war, wenn er sich so erschöpft fühlte, daß er über nichts sprechen wollte, und sensibel, wie Wolfgang Mackenroth war, beantwortete er die unausgesprochene, aber anstehende Frage auf seine Art: zaghaft langte er in seine innere Jackentasche, zog ein gefaltetes Manuskript heraus, legte das Manuskript auf mein Kopfkissen, beschwerte es mit zwei Zigarettenpackungen und machte gegen beides – Zigaretten und Manuskript – eine einladende Handbewegung: zur gefälligen Selbstbedienung und so weiter. Jedenfalls, er nahm sich nicht die Mühe, seine Mitbringsel unter die graue, harte, nächtliche Juckreize hervorrufende Decke zu schieben, und diese Unvorsichtigkeit bewies mir, daß er wirklich »von innen ausgehöhlt war«.



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