Deutschstunde by Siegfried Lenz

Deutschstunde by Siegfried Lenz

Autor:Siegfried Lenz [Lenz, Siegfried]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 3423009446
Herausgeber: Deutscher Taschenbuch Verlag
veröffentlicht: 2011-05-15T12:42:00+00:00


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Unsichtbare Bilder

Also hier, wo Hilke und ich unseren Butt peddeten, soll es entstanden sein: Leben und all das; haben Sie so was schon mal gehört? Hier aus dem Watt, aus der schlammgrauen oder tonfarbenen Einöde, die von Prielen durchschnitten, von flachen Tümpeln durchsetzt war, soll sich nach Per Arne Scheßel, dem Schriftsteller und Heimatforscher, der Aufbruch vollzogen haben: wer atmen konnte und all das, erhob sich eines Tages vom Meeresboden, wanderte über den amphibischen Gürtel an den Strand, wusch sich den Schlamm ab, entfachte ein Feuer und kochte Kaffee. Mein Großvater schrieb das, dieser Einsiedlerkrebs.

Jedenfalls, wir waren draußen im Watt, um unsern Butt zu pedden, zogen über den glitschigen Meeresboden weit vor der Halbinsel, Hilke immer voran. Mit uns fischten die Seevögel. Hilke hatte ihr Kleid hochgezogen und vor dem Bauch gerafft, ihre Beine waren mit Mudd bedeckt bis zu den Kniekehlen, der Rand ihres Schlüpfers war schwarz vor Nässe. Die Seevögel fischten, indem sie ihre geöffneten Schnäbel durch das Wasser der Tümpel zogen, klappten, schmatzten. Die scharf eingeschnittenen Rinnen der Priele, ihre Verästelungen zur offenen See hin: wenn das Meer zurückwich, ließ es sich hier gut fischen. Wir nahmen uns meist bei der Hand, traten in einen grauen Tümpel oder an den Rand eines flachen Priels und ließen uns einfach einsinken in den Schlamm, fühlten, tasteten mit den Zehen, zogen unsere Beine, einander stützend, heraus und arbeiteten uns systematisch weiter durch Schlick und Schlamm, immer gespannt und daraufgefaßt, daß sich unter der Fußsohle etwas krümmte; es schlug, es zappelte und bog sich, sobald wir einen Flachfisch aufgespürt hatten, eine Scholle, einen Butt, sehr selten eine Seezunge, und Hilke schrie und quietschte jedesmal, wenn sie den Fisch entdeckt hatte und festtrat: ich kenne keinen, der so ausdauernd Butt pedden konnte wie meine Schwester Hilke. Obwohl sie sehr kitzlig war, sich jedesmal schreckhaft aufbäumte und quietschte, ließ sie kaum einen Flachfisch entkommen, sie hielt ihn so lange unter dem Fuß, bis ich ihn gepackt und hervorgezogen hatte.

Manchmal sackte sie bis zu den Schenkeln ein, dann riß sie ihr Kleid bis zur Brust hoch. Manchmal glitschte sie über eine flache Tonschicht wie über Eis. Es machte ihr Spaß, wenn es im kühlen Mudd gluckste und sabbschte, wenn Blasen platzten, wenn sie weich und stetig einsank in den Grund. Nie vergaß sie, die Strömung in den Prielen zu beobachten. Wenn der wellig geriffelte Grund des Watts härter wurde, hüpfte sie auf einem Bein und landete jedesmal auf einem der schnurförmigen Kotkringel der Sandwürmer. Sie fing Muschelkrebse, Scherenasseln und Borstenwürmer, beobachtete sie eine Weile in der offenen Hand und setzte sie ins Wasser zurück. Sie sammelte leere Wellhornschnecken, warf die Gehäuse in ihren Schlüpfer; der Gummizug am Schenkel verhinderte, daß sie sie verlor. Das alles gehört unbedingt zur Szene.

Dann die Trübnis des Wattenmeers, niedrige Wolken im Westen, stoßartiger Wind, der die Priele krauste und die Tümpel und der das Gefieder der Seevögel sträubte, das ferne Motorengeräusch eines einzelnen Flugzeugs, der sandige Schimmer der Halbinsel, die Höhe des Deichs – noch sicherer, noch unbezwingbarer vom Watt her – und weit hinten auf der Düne die Hütte des Malers.



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