Des Nachts gehen wir im Kreis by Daniel Alarcón

Des Nachts gehen wir im Kreis by Daniel Alarcón

Autor:Daniel Alarcón
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Wagenbach
veröffentlicht: 2014-08-15T00:00:00+00:00


Viel später fragte ich Henry nach jener Nacht. Das war wieder in der Hauptstadt, Monate, nachdem die hier erzählten Ereignisse ihren Lauf genommen hatten. Ich habe versucht, die Geschichte auf Grundlage von Patalargas, Noelias und in geringerem Umfang Erics Darstellungen zu rekonstruieren. Was Henry betrifft, waren seine Erinnerungen verschwommen. Er redete in epischer Breite über seine Genesung, das nur zögerliche Nachlassen der Schmerzen in den Wochen nach jener Nacht; aber die Aufführung, der Kampf und alles, was unmittelbar folgte, sagte er, sei verschwommen.

Er redete lieber über Kampfszenen im Allgemeinen. Die nachgestellten. Er sprach darüber, wie sie inszeniert werden; ihm schien es eher zu behagen, so darüber zu sprechen, abstrakt. Wie alle Szenen, an denen viele Darsteller beteiligt seien, erläuterte mir Henry, sei eine Kampfszene eine komplizierte und knifflige Aufgabe. Will sie gut sein, muss sie Chaos suggerieren, ohne chaotisch zu sein, verwirrend wirken, ohne verworren zu sein. Die Menge muss genussvoll gespannt sein, während die Darsteller selbst völlig entspannt sind. Henry fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und lehnte sich vor, kurzzeitig angeregt, erheitert ob der gelungenen Aneinanderreihung widersprüchlicher Halbsätze. Hatte ich es begriffen? Konnte ich ihm folgen?

Und ich begann mich zu fragen, ob er das Ganze als Schauspiel betrachtete. Ob er sich in jener Nacht, als das Stück vorüber war und die Attacke kam, als seine Vergangenheit in Form von Jaime vor ihm stand und seine Freunde Antworten von ihm verlangten, ob er sich an diesem Punkt als Schauspieler gefühlt hatte?

»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Jaime hat mir die Scheiße aus dem Leib geprügelt. Ich lag am Boden. Ich hab mir ein Plastikmesser gegriffen. Ich wollte mich verteidigen. Ich wollte, dass mich jemand rettet. Ist das schauspielern?«

»Das frag ich Sie.«

Henry rieb sich das Gesicht. Er stand auf und hob sein Hemd mit der linken Hand an. »Hier hatte ich Prellungen«, sagte er und zeigte dabei auf Bauch und Brust. »Und hier. Und hier. Diese beiden Rippen« – er drückte die eine, dann die andere – »diese beiden hier waren gebrochen.«

»Ich weiß. Das war nicht meine Frage. Ich sage nicht, dass Sie alles vorgetäuscht haben.«

Er runzelte verwirrt die Stirn. »Aber was willst du dann wissen?«

»Als es vorbei war, waren Sie sich bewusst, was für eine heikle Auseinandersetzung da begonnen hatte? Haben Sie aufgepasst, als Sie spielten?«

»Natürlich war ich vorsichtig. Ich hatte Angst, dass dieser Mann mich umbringt.«

In jener Nacht trug Jaime eine Maske, unnahbar und distanziert. Gutaussehend war er nicht, erzählte Patalarga mir später, hatte aber »ein interessantes Gesicht«. Sein zu kleiner Mund blieb geschlossen, die zusammengepressten Lippen zeigten die Andeutung eines Lächelns. Die Leute hatten Angst vor ihm, und das genoss er. Sein sonst glattgekämmtes Haar stand seit dem Scharmützel wild ab, aber das störte ihn nicht weiter.

»Ich glaube, wir dachten, er würde was sagen«, sagte Patalarga. »Aber das tat er nicht.«

Stattdessen ergriff Noelia das Wort, an ihren Bruder gewandt: »Wissen die es auch?«, fragte sie mit Verzweiflung in der Stimme. »Wissen sie, dass Rogelio tot ist? Wissen es alle außer mir?«

Patalarga antwortete. »Gnädige Frau, ich kann Ihnen versichern, dass wir überhaupt nichts wissen.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.