Der letzte Flug des Falken by Yaşar Kemal

Der letzte Flug des Falken by Yaşar Kemal

Autor:Yaşar Kemal [Kemal, Yaşar]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Anatolien, Memed mein Falke, Türkei, Yashar Kemal
Herausgeber: Unionsverlag
veröffentlicht: 2015-11-16T16:00:00+00:00


16

Der Wald funkelte. Eine gelbe, in Licht getauchte Wolke wogte über diesem Meer von Grün. Rote Tupfer schwirrten zwischen den Bäumen. Die Felsen waren nicht zu sehen. Nur ab und zu hob sich aus dem Grün und Gelb der Bergketten ein schroffer, lila, rot und weiß schimmernder Gipfel empor, der das Tageslicht einsaugte und die ganze Umgebung in unzählige Glitzer tauchte.

Am Ufer eines Baches hatten sie sich unter mächtigen Platanen auf Quader gehockt. Hin und wieder fiel kreisend ein rot geädertes, vergilbtes Blatt von den Zweigen, zu ihren Füßen plätscherte das Wasser um die Felsen. Ferhat Hodscha rauchte den von Memed mitgebrachten goldgelben Tabak in einer selbst gedrehten Zigarette. Obwohl sie nun schon seit Tagen miteinander redeten, war des Hodschas Neugier noch nicht befriedigt, und Memed erzählte unentwegt, ohne der Fragen überdrüssig zu werden.

»Hast du von dem Pferd gehört?«, fragte Ferhat Hodscha wohl schon zum fünften Mal.

»Ich habe davon gehört«, lachte Memed.

»Alles, wirklich alles?«

»Zehn Mal mehr als alles. Die Geschichten werden immer länger, bis sie von den Bergen in die Ebene gewandert sind. Dass über dem unendlichen Meer und über den Wolken, immer bei Tagesanbruch …«

»Ein Pferd wiehert, nicht wahr?«, unterbrach ihn der Hodscha.

»Ein Pferd wiehert«, nickte Memed, »zehn Pferde hoch, und die Mähne eins mit den Wolken.«

Aus der Stadt war noch keine Nachricht gekommen, was Memed beunruhigte.

»Mach dir keine Sorgen«, beschwichtigte ihn der Hodscha. »Wir haben unseren Abdülselam dort, der wiegt eine ganze Armee auf. An den wagt sich keiner heran. Du hast ihn ja kennen gelernt.«

»Ja, ich habe ihn kennen gelernt. Wenn die Vorsehung diese schmutzige Welt, die einen Lehrer Zeki Bey nicht verschont, noch nicht untergehen lässt, dann dank dieser Menschen. Er wollte nicht, dass ich Şakir Bey töte. Doch hätte ich es nicht getan, hätte er alles darangesetzt, es selbst zu tun. Der Tod des Lehrers hatte ihn tief getroffen. Er sagte kein Wort, aber ich sah ihn bei der Beerdigung. Sein Gesicht schien zu Stein erstarrt, und da wusste ich, hätte ich Şakir Bey nicht getötet, Abdülselam Hodscha säße heute an meiner Stelle hier, er hätte seine so geliebte Frau verlassen. Er war so erleichtert, als er ahnte, dass ich Şakir Bey töten würde, obwohl ich noch zögerte. Er muss es mit einem Blick in mein Gesicht vorausgesehen haben. Er hätte vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben seine Hände mit Blut befleckt.« Dabei schaute Memed traurig auf seine eigenen Hände.

Dieser Blick entging Ferhat Hodschas Augen nicht. »Du hast dich nicht daran gewöhnen können, Menschen zu töten.«

»Um wen auch immer es sich handeln mag, mein Hodscha, ich werde mich nie daran gewöhnen.«

»Der Mensch gewöhnt sich an alles, aber sich an das Töten von seinesgleichen zu gewöhnen, ist schwer. Jedes Mal bricht dabei ein Stück seines Herzens.«

»Lehrer Zeki Bey wusste sehr viel über die Welt und die Menschen. Er hatte im Krieg viele getötet.«

»Ein Mann mit viel Erfahrung. Weggefährte der Briganten Schwarze Schlange und Şahins, sogar Gizik Durans.«

»Wäre er doch nicht gestorben!«, seufzte Memed. »Nachdem ich ihn kennen gelernt hatte, wurde ich mehr als nur ein Memed, wurde ich zwei, drei, ja fünf Mal mehr.



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