Der kleinste Kuss der Welt by Malzieu Mathias

Der kleinste Kuss der Welt by Malzieu Mathias

Autor:Malzieu, Mathias [Malzieu, Mathias]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: carl’s books
veröffentlicht: 2015-08-30T16:00:00+00:00


Warmer Schnee

it dem Heft unter dem Arm verließ ich die Apotheke, völlig verwirrt von Louisas Geständnis. Es war ein seltsames Gefühl: Ich war die ganze Zeit einem fernen Sommer hinterhergerannt und hatte die Sonne nicht gesehen, die direkt vor meiner Tür schien. Das erinnerte mich an meinen ersten Kuss. Als ich das Collège Camille Vernet besuchte, küsste ich eines Tages auf der Steinmauer zwischen dem naturwissenschaftlichen und dem geisteswissenschaftlichen Gebäude ein Mädchen. Wir trafen uns öfter, und sie erzählte mir ausführlich von dem Jungen, in den sie verliebt war. Er wohnte sehr weit weg, in den Schweizer Alpen. Er fuhr Snowboard, war groß und stark und schrieb ihr Liebesbriefe auf Fotos, auf denen er selbst beim Snowboarden zu sehen war. Wie ein Idiot gab ich ihr Ratschläge, stand ihr bei und ermutigte sie sogar! Dabei träumte ich die ganze Zeit nur davon, sie noch einmal zu küssen. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass ich da war, direkt vor ihrer Nase. Dass ich warmen Schnee erfinden und sie darauf betten würde. Ich hätte alles dafür getan, dass sie sich für mich interessierte, aber ich traute mich nicht. Deshalb begnügte ich mich damit, sie weiterhin zu treffen, und klammerte mich an dieses Besser-als-nichts. Wir unterhielten uns stundenlang über diesen blöden Schweizer Snowboarder. Mit Louisa fand ich mich jetzt plötzlich in der anderen Rolle wieder. Ich wollte den Gedanken beiseiteschieben, aber er ließ sich nicht abwimmeln.

Zu Hause angekommen, legte ich das Skateboard als Schreibtisch auf die Armlehnen meines alten Sessels. Ich zog den Schlafanzug an und nahm auf meinem Thron Platz, warf mein Herz und mein Hirn in einen Shaker und schüttelte einmal kräftig. Verliebt oder nicht verliebt, das war hier die Frage. Ich war der Liebe aus dem Weg gegangen, um nicht verletzt zu werden, aber ich musste der Wahrheit ins Auge sehen: Ich konnte ohne sie nicht leben. Ich verspeiste die restlichen kleinsten je verzeichneten Schokoküsse. Sie waren nicht übel, und sie brachten meine Stimmungsaufhellungsmaschine auf Touren.

Ich musste die unsichtbare Frau unbedingt wiederfinden. Aber wo sollte ich mit der Suche beginnen? Melancholie legte sich wie ein schwarzer Nebel über mich, und ich wedelte verzweifelt mit den Armen, um den Schleier zu vertreiben. Elvis trippelte leise vor sich hin trällernd auf der Armlehne hin und her. Er schien geduldig darauf zu warten, dass die Erinnerung an meine letzte Begegnung mit der unsichtbaren Frau wie ein Kuchenteig aufging und ich die fertigen Worte aus dem Ofen holte. Gaspard und Louisa hatten meine Abenteuerlust geweckt, jeder auf seine eigene Art. Ich musste es wenigstens versuchen. Jetzt gleich. Ich war wieder im Einsatz.



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