Der kleine Rest des Todes by Ulla Lenze

Der kleine Rest des Todes by Ulla Lenze

Autor:Ulla Lenze
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Frankfurter Verlagsanstalt
veröffentlicht: 2012-02-20T00:00:00+00:00


10

Nachdem sie bei mir geklingelt hat, ist meine Schwester wieder in ihr rotes Auto eingestiegen. Es leuchtet in der engen Einbahnstraße wie eine Lampe. Sie steht bei laufendem Motor in zweiter Reihe, die Hände am Lenkrad, und sie lässt auch nicht los, als ich neben ihr sitze und sie mit Wangenküsschen begrüße. Sie trägt eine weiße Leinenbluse mit Lederflechtgürtel und um den Hals ein dünnes Goldkettchen. Ich trage die Jeans von letzter Nacht, aber sie ist fast trocken. Vielleicht, wie andere sich Goldkettchen umhängen, unterstreiche ich meine Persönlichkeit nun mit Pisse.

'Wie geht’s?'

'Bestens', sage ich und stelle die Frage nicht zurück.

'Du siehst blass aus, hockst wohl viel drinnen, oder?'

'Ja. Ich habe aufgehört, empirisch sein zu wollen, was ist empirisch, ich erkläre es dir …'

'Hör doch auf mit dem Quatsch', fällt sie mir ins Wort, 'ich habe nur wissen wollen, wie es dir geht.'

'Gut geht es mir. Sehr gut.'

Sie fährt an, der Wind flappt herein und spielt mit ihrem hochgesteckten Haar. Ich schließe das Fenster, bevor sie mich darum bitten kann. Ein roter Punkt blinkt über das Straßennetz des Navis, das sind wir, und eine Frau sagt uns, was wir tun sollen.

'Ich habe noch nicht herausgefunden, wie man das abstellt.'

'Ist das Auto neu?'

'Merkst es aber früh.'

Seltsam. Unser Vater fliegt ein Flugzeug zu Schrott, und meine Schwester kauft sich ein neues Auto.

'Entschuldige, Ariane, du riechst. Nein, du stinkst. Du stinkst nach Urin. Kann das sein?'

'Das kann durchaus sein.'

'War das wieder deine Katze?'

'Nein, diesmal war ich das.'

'Und du hast einen dicken Eiterpickel auf der Lippe. Damit solltest du zum Arzt. So ein Eiterherd im Gesicht ist gefährlich, zu nah am Hirn. Auch wenn deins sowieso schon nicht mehr richtig zu funktionieren scheint. Auch dein Hemd ist schmutzig. Hast du dich auf einer Wiese gewälzt? Und hast du wirklich keine sauberen Sachen, die du anziehen könntest?'

'Du klingst wie Mama.'

Svenja schaut auf ihre Armbanduhr. 'Wir könnten jetzt noch umkehren, ich bin ja extra etwas früher los. Hatte so was schon geahnt. Du bist immer für Überraschungen gut, das sagte auch Papa.'

Ich schweige. Sie setzt den Blinker, kehrt um, und vor meiner Haustür sagt sie: 'Entweder du schließt nun auf oder gibst mir den Schlüssel, denn irgendwie müssen wir rein.' Ich lege ihn ihr in die Hand.

Sie schließt auf, geht vor mir das Treppenhaus hoch, 'in welchem Stock wohnst du noch gleich', sie war in all den Jahren nur zweimal hier, hat beim Umzug geholfen, und einmal, als Laura hier zu Besuch war, kam sie, um sie abzuholen. Ich kriege die Füße kaum hoch. Stufe für Stufe eine Strapaze, meine Glieder sind schwer wie letzte Nacht, als ich auf dem Sandboden erwachte, tief in die Erde gesunken bin, wie in ein Grab, mein eigenes Grab auf einem Kinderspielplatz, und mir dieses einzelne erleuchtete Fenster in den dunklen Häuserzeilen wehtat. Und dann fällt mir wieder ein, während Svenja aufschließt, dass mich jemand nach Hause fuhr. Ich krame in den Hosentaschen, um mich zu vergewissern, dass das wirklich geschehen ist.



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