Der kleine Koenig Dezember by Axel Hacke

Der kleine Koenig Dezember by Axel Hacke

Autor:Axel Hacke [Hacke, Axel]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 388897223X
Herausgeber: der Hörverlag
veröffentlicht: 1993-04-14T22:00:00+00:00


»Erstaunlich«, sagte ich und glotzte minutenlang dorthin, wo der Drache gestanden hatte. »Was tut ein Drache hier?«

»Er greift Menschen an, die auf dem Weg ins Büro sind«, sagte der König. »Er will nicht, dass sie dorthin gehen, und versucht, sie aufzuhalten.«

»Mich hat er noch nie angegriffen«, sagte ich.

»Glaubst du wirklich?«, fragte der König. »Hast du noch nie einen Widerstand gespürt auf deinem Weg? So als ob etwas an dir zieht und dich nicht vorwärtsgehen lassen will? Oder hast du niemals, während du unterwegs warst, einen Ring um die Brust gefühlt?«

»Doch, natürlich«, sagte ich. »Ich dachte, ich hätte keine Lust oder würde mich fürchten vor meinem Chef oder hätte Angst, dass ich meine Arbeit nicht schaffe.«

»Das war der Drache«, sagte der König. »Er hat an dir gezogen oder seine Arme von hinten fest um deine Brust geschlungen.«

»Aber ich habe ihn nie gesehen«, sagte ich. »Und warum greift er mich heute nicht an?«

»Weil du nicht ins Büro willst«, sagte der König.

»Aha!«, sagte ich, und wir gingen noch ein bisschen weiter und dann ins Café. Der König saß in der Tasche und guckte die ganze Zeit hinaus. Ich schimpfte nicht mehr und stupste ihn auch nicht zurück. Als die Kellnerin zu uns kam, dachte ich, sie werde bestimmt gleich sagen: »Hören Sie mal, Sie haben da so einen komischen kleinen König im Jackett.« Aber sie fragte nur, was ich bestellen möchte.

»Einen Cappuccino«, sagte ich. »Haben Sie eventuell Gummibärchen?«

»Ich glaube schon«, antwortete sie, »für Kinder, ich glaube schon.«

Sie brachte mir den Kaffee und eine kleine Tüte mit Bärchen. Ich packte dem König eines aus.

»Danke sehr«, sagte er.

Ich schüttete Zucker in meinen Cappuccino und sah zu, wie er eine Insel im Milchschaum bildete und dann rasch versank.

»Es ist traurig, jeden Tag in ein Büro zu gehen und nicht zu sehen, was du siehst«, sagte ich. »Und immer wieder mit dem Drachen zu kämpfen und nicht einmal zu wissen, dass es ihn gibt.«

»Ja«, sagte der König und biss zufrieden in sein Gummibärchen. »Kann ich nachher die anderen Bärchen in der Tüte auch haben?«

»Ich wäre gern wie du«, sagte ich.

»Du kannst nicht sein wie ich«, sagte der König. »Aber du warst einmal so. Als du klein warst, meine ich.«

»Aber jetzt bin ich groß, und du wirst immer kleiner«, sagte ich.

»Das ist doch toll«, sagte der König. »Für mich, meine ich.«

»Leider«, sagte ich. »Für dich.«

»Immerhin bin ich dein kleiner König«, sagte der König, »und ich wohne bei dir. Es gibt mich nur, weil du mich haben wolltest.« Ich rührte in meinem Kaffee. »Das ist doch schön, oder?«, sagte der König.

»Wenigstens das«, sagte ich.

In einer schönen Sommernacht gingen der König Dezember und ich hinaus auf den Balkon. Wir legten uns rücklings auf den Boden und blickten zu den Sternen hinauf. Genauer gesagt: Nur ich lag direkt auf dem Boden. Der König befand sich auf meinem Bauch, zwischen dem fünften und dem sechsten Hemdknopf von oben, und ich spürte sein kleines Gewicht mit meinem Atem steigen und sinken.

»Was fühlst du, wenn du die Sterne siehst?«, fragte der König.

»Ich fühle mich klein und unbedeutend«, sagte ich.



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