Der fremde Tibeter by Eliot Pattison

Der fremde Tibeter by Eliot Pattison

Autor:Eliot Pattison [Pattison, Eliot]
Die sprache: deu
Format: epub, mobi
ISBN: 9783352005640
Herausgeber: Rütten & Loening
veröffentlicht: 2000-09-15T00:00:00+00:00


Kapitel 11

Die Straße, die zum ragyapa-Dorf führte, hörte etwa siebzig Meter vor der Ansiedlung auf und endete an einer großen Lichtung, auf der eine Reihe flacher Felsen als Abladeplattformen dienten. Als Sergeant Feng auf die Lichtung einbog, kam ihnen mit ungewöhnlich hoher Geschwindigkeit ein kleiner Tieflader entgegen. Shan erhaschte einen flüchtigen Blick auf eine Frau am Fenster. Sie weinte.

Auf dem Pfad zum Dorf war ein Eselkarren unterwegs, auf dem ein langes, dickes Bündel lag, das in Segeltuch gewickelt war.

Zu Shans Überraschung sprang Yeshe als erster aus dem Auto. Er nahm einen Jutesack mit alten Äpfeln von der Rückbank und machte sich mit trauriger Entschlossenheit auf den Weg. Als Shan ausstieg, warf Feng einen Blick auf das lange Bündel auf dem Karren, verriegelte dann sofort die Türen und kurbelte die Fenster hoch. Als letzte Verteidigung zündete er sich eine Zigarette an und begann, den Innenraum des Wagens mit Rauch zu füllen.

Die ragyapas waren Shan völlig fremd. Mit Han-Chinesen hatten sie nichts zu tun, weder den toten noch den lebendigen. Genaugenommen hatten sie mit keinem Außenstehenden etwas zu tun, sondern blieben unter sich. Sogar andere Tibeter trauten sich nur selten in ihre Nähe, außer um die Leiche eines Angehörigen und als Bezahlung etwas Geld oder einen Korb mit Waren zurückzulassen. In einem ragyapa-Dorf in der Nähe von Lhasa hatten zwei Soldaten versucht, die Leute bei der Arbeit zu filmen, und dafür mit ihrem Leben bezahlt. Bei Shigatse waren japanische Touristen mit Beinknochen geschlagen worden, als sie sich zu nahe heranwagten.

Shan holte Yeshe schnell wieder ein und blieb einen Schritt hinter ihm. »Sie sehen so aus, als hätten Sie einen Plan«, stellte er fest.

»Richtig. Der Plan sieht vor, so schnell wie möglich wieder von hier zu verschwinden«, erwiderte Yeshe leise.

Auf dem Boden neben der ersten Hütte saß ein ungewaschener Junge mit langen, struppigen Haaren und schichtete Steine auf. Er schaute hoch, bemerkte die Besucher und stieß einen Schrei aus, der nicht wie eine Warnung klang, sondern eher wie ein plötzlicher Schmerzenslaut, als hätte man ihn getreten. Daraufhin kam eine Frau aus dem Innern der Hütte. In einer Hand hielt sie einen verbeulten Teekessel, und mit der anderen balancierte sie ein Baby auf ihrer Hüfte. Sie sah Shan an, allerdings nicht sein Gesicht, sondern seinen Körper, den sie so langsam in Augenschein nahm, als würde sie ihn abmessen.

Hinter der Hütte befand sich der zentrale Platz der Ansiedlung, um den herum man mehrere Behausungen errichtet hatte. Einige waren primitive Hütten aus Zweigen, Brettern und sogar Pappe. Andere jedoch waren kleine, aber solide Steingebäude, wie Shan überrascht feststellte. Vor einem der Häuser arbeiteten mehrere Männer und schärften soeben eine Reihe von Äxten und Messern.

Die Männer erinnerten irgendwie an Affen. Sie waren nicht groß, hatten dicke Arme und kleine Augen. Einer von ihnen stand auf, machte einen Schritt auf Shan zu und schwang drohend eine kleine Axt. Sein Blick war auf beunruhigende Weise leer, als hätte er ihn sich bei den Toten ausgeborgt. Als er den Sack in Yeshes Hand bemerkte, wich die Strenge aus seiner Miene. Zwei andere Männer traten auf Yeshe zu und streckten mit feierlicher Geste die Arme aus.



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