Der Zwerg reinigt den Kittel by Anita Augustin

Der Zwerg reinigt den Kittel by Anita Augustin

Autor:Anita Augustin [Augustin, Anita]
Die sprache: deu
Format: mobi
Herausgeber: Ullstein eBooks
veröffentlicht: 2012-05-15T22:00:00+00:00


7

Ein Rasenmäher ist nur ein Rasenmäher, aber in den falschen Händen kann er zur tödlichen Waffe werden. Der Mann im grünen Overall hat solche Hände. Jetzt schiebt er wie jeden Montag, Mittwoch und Freitag den Rasenmäher durch die Grünanlage der RESIDENZ und tötet alles, was lebt und höher ist als drei Millimeter.

Gänseblümchen zum Beispiel, frisch aus dem Boden geschlüpft. Rübe ab!

Oder Klee. Wenn du ein kleiner Klee bist, dann erwischt dich der Rasenmäher dort, wo bei uns Menschen die Weichteile sind. Zack!

Marienkäfer: vier Millimeter. Er wird nie wieder Glück bringen.

Raupe: drei Komma fünf Millimeter. Sie wird nie ein Schmetterling werden.

Und jetzt stellen wir uns die Nasenspitze eines sympathischen Maulwurfs vor, der gerade ein bisschen frische Luft schnappen will.

Ist das nicht schrecklich?

Nein?

Ist Ihnen egal?

Mir auch.

Früher war mir das auch egal, aber seit ich mich mit einem Regenwurm identifiziere, sehe ich die Welt aus einer ganz neuen Perspektive.

Regenwürmer sind knapp drei Millimeter hoch, ich bin einer von den wenigen Überlebenden, und das aus Zufall. Weil ich zufällig nicht als Marienkäfer oder Gänseblümchen geboren worden bin. Weil ich zufällig nicht als Nasenspitze eines Maulwurfs zur Welt gekommen bin.

Sowas macht nachdenklich.

Sie auch?

Das freut mich.

Der Mann im grünen Overall mäht den Rasen systematisch von außen nach innen, die Grünanlage der RESIDENZ ist kreisförmig, in der Mitte ein graues Rechteck mit roter Umrandung. Vierzig Quadratmeter Beton, eingezäunt. Auf dem Beton steht ein Klettergerüst, der Zaun ist zwei Meter hoch und rot gestrichen. Könnte ein Kinderspielplatz sein. So einer, wie ihn Leute planen und bauen, die keine Kinder mögen.

Seniorenbewegungsanlage.

Hat der Hilfspfleger zu mir gesagt. So nennt es der Heimleiter, manchmal sagt der Heimleiter auch Seniorenaktivitätenplatz, alle anderen sagen Der Käfig.

Das hat der Hilfspfleger letzte Woche zu mir gesagt, an meinem zweiten Morgen in der RESIDENZ, es war meine erste Begegnung mit dem Hilfspfleger. Meine erste Erfahrung damit, wie es ist, ein altes Auto zu sein.

Die Welt ist kein besonders magischer Ort, aber wenn du kurz davor bist, sie wieder zu verlassen, und du gehst für die letzten paar Jahre in ein Altenheim, dann kommst du aus den wundersamen Verwandlungen gar nicht mehr heraus.

Grashüpfer, Regenwurm, Auto.

Drei Millimeter. Verdammt kurz, wenn Sie mich fragen. Wollen Sie wissen, warum?

»Äh«, sagt Doktor Klupp und rückt seine Brille zurecht.

Seit ich ihn dabei erwischt habe, dass er mich für plemplem hält, ist er nicht mehr ganz bei der Sache. Ich glaube, er denkt darüber nach, wie er mein Vertrauen zurückgewinnen kann, damit ich ihm endlich sage, wovon ich nichts weiß, weil ich mich nicht daran erinnern kann.

Die Sache mit der Schuld: interessant.

Die assoziative Verknüpfung von Schuld, Erlösung und Schlaf: sehr interessant.

Wollen Sie darüber sprechen?

»Äh«, sage ich, »ist immer eine gute Antwort, aber manchmal nicht gut genug. Also: Wollen Sie oder wollen Sie nicht wissen, warum der Rasen vor der RESIDENZ nur drei Millimeter hoch ist?«

»Ja«, sagt er und fummelt an seiner Brille. »Spannend.«

Lügner.

»Na gut, wenn Sie wollen«, sage ich. »Dann sind wir jetzt sportlich und springen kurz zurück zu meinem zweiten Morgen in der RESIDENZ.«

»In Ordnung«, sagt er gequält.

Sport, Zeitsprünge. Nicht jeder mag das.



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