Der Wiener Kongress - die Neugestaltung Europas 181415 by C.H.Beck
Autor:C.H.Beck
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406653827
Herausgeber: C.H.Beck
Spielregeln
Der Erwartungshorizont am Beginn des «Kongresses» war eher begrenzt. Der französische Außenminister Talleyrand beispielsweise hat sich in einem Brief an einen engen Mitarbeiter vor allem deswegen skeptisch geäußert, weil eine Residenzstadt kein Ort für einen Kongress sei und weil es keinen Vermittler gebe, so dass zu befürchten sei, dass der Kongress überhaupt kein Ergebnis zeitige. Talleyrand hatte hier das «Modell» der vorrevolutionären Friedenskongresse vor Augen, das freilich auch im 18. Jahrhundert schon mehrfach übergangen worden war – es hatte auch damals schon «Kongresse» in Paris, also einer Residenzstadt, und ohne Vermittler gegeben. Aber strukturell war der Wiener Kongress mit diesen Kongressen des Ancien Régime auch gar nicht zu vergleichen.
Es entsprach freilich der Tradition der großen europäischen Friedenskongresse – ob man an den Westfälischen denkt oder an den in Nijmegen, an den in Utrecht oder den Aachener –, dass sie keine Plenarversammlungen aller Delegationen kannten, sondern sich in der Regel mit Mehraugengesprächen – teils mit den Mediatoren, teils ohne sie – begnügten. Dieses relativ formlose, sehr flexible Verfahren wurde auch in Wien nicht aufgehoben, umso mehr als unter den Alliierten eine geradezu panische Furcht vor Plenarversammlungen herrschte, von denen man glaubte, sie würden von Frankreich instrumentalisiert und beinhalteten ein zu großes Risiko in Gestalt von «demokratischem» Potential. Man schuf mit verschiedenen Komitees, die für Sachfragen zuständig waren und in der Regel fünf bis acht Teilnehmer zählten, aber doch einen Ansatz von mehr Formalisierung, der in Richtung einer Bündelung von Expertise verwies und insofern auch unter das Rubrum «Professionalisierung» zu stellen ist. Diese Komitees/Kommissionen wurden nicht alle schon zu Beginn des «Kongresses» ins Leben gerufen, wiewohl in den Wochen vor «Kongressbeginn» darüber bereits eine Art Vorverständigung stattgefunden hatte, sondern erwuchsen gelegentlich auch aus den Bedürfnissen der Stunde. Zu einer Vollversammlung aller Teilnehmer kam es in Wien entgegen Talleyrands Vorstellungen am Ende nur anlässlich der Unterzeichnung der Kongressakte am 9. Juni 1815, zu einem Zeitpunkt freilich, zu dem ein Teil der Teilnehmer bereits abgereist war. Der Redoutensaal der Hofburg, der an sich für die Vollversammlungen des Kongresses vorgesehen war, konnte für andere Zwecke genutzt werden.
Diese «Technik» drängte sich auch deswegen auf, weil der Kongress vor einer solchen Fülle von Agenden stand – eine Zusammenstellung des «Kongresssekretärs» Friedrich von Gentz benötigte fast sämtliche Buchstaben des Alphabets (a – s) –, dass ein unstrukturiertes Herangehen an die Verhandlungsgegenstände wohl für eine unabsehbare Dauer des Kongresses gesorgt hätte. Denn die Pariser Verhandlungen der Siegermächte untereinander und mit den Repräsentanten der wieder etablierten Bourbonendynastie hatten ja erwiesen, dass die Vorstellungen mancher Minister, alles Entscheidende könne vor Ort entschieden werden, so dass der Kongress in der Donaumetropole «weniger zum Negoziieren als zum Unterfertigen bestimmt sein» werde, blauäugig gewesen waren – längst nicht alles von Belang war vorentschieden worden, sieht man einmal von der Grundsatzentscheidung ab, das napoleonfreie Frankreich baldmöglichst wieder in den Areopag der Großmächte aufzunehmen. Geeinigt hatten sich die Repräsentanten der vier Koalitionspartner lediglich darauf, gemäß einem Geheimartikel des Pariser Friedens ihre Konferenz, die in den Wochen seit Ende September unter größtmöglicher Geheimhaltung zu tagen begann, als
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