Der Weg ins Leben by A. S. Makarenko

Der Weg ins Leben by A. S. Makarenko

Autor:A. S. Makarenko [Makarenko, A. S.]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman, Sowjetunion
Herausgeber: Aufbau-Verlag, Berlin
veröffentlicht: 1948-06-01T00:00:00+00:00


11

LYRIK

Bald nach Oljas Hochzeit brach das längst Erwartete über uns herein: wir mußten von den Zöglingen, die zur Arbeiterfakultät gingen, Abschied nehmen. Obwohl von der Arbeiterfakultät schon seit ‚unserem Schönsten‘ gesprochen wurde, und sich viele Zöglinge Tag für Tag zur Aufnahme vorbereiteten, obwohl nichts sehnlicher gewünscht wurde, als Gorki-Zöglinge auf der Arbeiterfakultät zu haben, und das Ganze eitel Freude und Sieg bedeutete, krampfte sich doch allen das Herz zusammen, als die Abschiedsstunde schlug. Uns kamen Tränen in die Augen, uns wurde bang. Da war die Kolonie mit ihrem Leben, ihrer Arbeit, ihrem Lachen, und nun müssen sie fort; und es war, als ob es niemand erwartet hätte. Auch ich erwachte an diesem Tage unruhig, mit dem beklemmenden Gefühl eines bevorstehenden Verlustes.

Nach dem Frühstück zogen alle ihre guten Anzüge an, im Garten wurden die Tische für das Festmahl aufgestellt, in meinem Arbeitszimmer nahmen die Fahnenträger die Schutzhülle von der Fahne, und die Trommler hängten ihre Trommeln um. Aber diese Vorzeichen der Feier vermochten nicht, die Trauer zu verdrängen. Lidotschkas blaue Augen waren seit dem frühen Morgen verweint, die Mädchen hatten sich auf die Betten geworfen und heulten herzzerbrechend, und Jekaterina Grigorjewna bemühte sich vergeblich, sie zu beruhigen, sie selbst konnte ihrer Bewegung kaum Herr werden. Die Jungen waren ernst und schweigsam. Lapotj schien ein grenzenlos langweiliger Mensch zu sein, und die Kleinen saßen, wie man es gar nicht gewohnt war, in streng ausgerichteten Reihen wie Sperlinge auf einem Telegrafendraht und hatten wohl noch nie so viel Schnupfen gehabt. Artig hockten sie auf den Bänken und Geländern, hielten die Hände zwischen den Knien und betrachteten Dinge, die ein gutes Stück höher als ihr gewohntes Blickfeld lagen: Dächer, Baumwipfel und den Himmel.

Ich teile ihre kindlichen Zweifel und verstehe ihren Kummer, den Kummer von Menschen, denen Gerechtigkeit alles ist. Ich bin mit Tosjka Solowjow einverstanden: ,Warum wird es morgen Matwej Beluchin in der Kolonie nicht mehr geben?‘ Kann man das Leben nicht vernünftiger einrichten, so, daß Matwej nicht fort muß und Tosjka dieses große, nie wieder gutzumachende, ungerechte Leid nicht zu tragen braucht? Und gibt es denn für Matwej nur diesen kleinen, lieben Tosjka, mit dem er in der Kolonie so eng verbunden ist, und ist denn Matwej der einzige, der von uns geht? Auch Burun, Karabanow, Sadorow, Krajnik, Werschnew, Golos, Nastja Notschewnaja fahren, und jeder von ihnen hat viele solcher innigen Freundschaften; Matwej, Semjon und Burun – das sind doch Menschen, Menschen, denen nachzueifern so schön ist, und ohne die man nun wieder von vorn anfangen muß.

Karabanow wich nicht von meiner Seite, lächelte und sagte:

„Das Leben ist so gemacht, daß irgendwie alles nicht zueinander paßt. Die Arbeiterfakultät besuchen ist doch ein Glück, es ist, man möchte sagen, ein Traum oder ein Märchenschloß. Aber in Wirklichkeit ist es vielleicht auch nicht so. Vielleicht ist es so, daß das Glück heute hier zu Ende ist, weil es so schwerfällt, die Kolonie zu verlassen, so furchtbar schwer … Wenn es keiner sehen könnte, würde ich heulen … oh, ich würde heulen … Vielleicht wäre mir dann leichter.



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