Der Verrat by Michael Lüders

Der Verrat by Michael Lüders

Autor:Michael Lüders
Die sprache: de
Format: mobi, epub
Herausgeber: Arche Verlag
veröffentlicht: 2011-11-11T23:00:00+00:00


9

Jeden Morgen wachte ich auf mit dem lähmenden Gefühl, eine kalte Hand würde nach mir greifen.

In den ersten Tagen hatte ich mein Bett kaum verlassen. Manchmal zog ich mir die Decke über den Kopf und hoffte, die Gespenster würden von mir weichen. Aber das taten sie nicht. Ich hielt die Luft an, um sie zu vertreiben. Minutenlang, bis ich fast erstickte. Sie standen da und blickten höhnisch auf mich herab. Ich schloß die Augen und hörte nur meinen Atem, der leise durch die Nase strich. Ich träumte davon, meine Vergangenheit auszulöschen und ein anderer zu sein. Ich sehnte mich danach, ein normales, ungestörtes Leben zu führen, und wußte doch, daß Freiheit für mich nicht mehr vorgesehen war.

Ich mußte an den Richter in Wazra denken. Wie er mich fragte: »Wenn Sie mit dem Flugzeug nach Deutschland fliegen und Sie erleben eine Notlandung, was machen Sie dann?«

»Ich würde auf Rettung hoffen«, hatte ich geantwortet. Und der Richter sagte: »Genau wie wir. Und was für Sie Deutschland ist, ist für uns das Jenseits. Das Paradies.«

Doch für mich gab es kein Jenseits. Auch keinen Weiterflug. Chitral war Endstation, davon war ich überzeugt. Was von nun an geschah, lag nicht mehr in meiner Hand. Ich konnte Glück haben oder untergehen.

Chitral ist eine Kleinstadt im äußersten Norden von Pakistan, inmitten der endlosen Weite des Hindukusch. Durch Chitral fließt der Kunar River, der denselben Namen trägt wie die benachbarte Provinz in Afghanistan. Von dort hatten wir uns, Pervez und ich, zu Fuß durchgeschlagen, nach unserem Abschied von den Höhlenmenschen. Vier Tage waren wir unterwegs gewesen, wobei wir Menschen mieden. Wir wollten nicht an die Armee verraten werden.

Die Landschaft, die ich durch die Fenster meiner Holzhütte sah, war von überwältigender Schönheit, ein gezacktes Alpenpanorama mit Gletschern, die höher waren als sechstausend Meter. In meiner Hütte wurde es nachts empfindlich kühl, und ich begann, den Kachelofen zu heizen. Offiziell war ich Geologe. Ich nahm Gesteinsproben, die ich anschließend im Labor untersuchen würde. Bei der örtlichen Polizei hatte ich einen Reisepaß vorgelegt, der auf den Namen Marius de Beer ausgestellt war. Alle Ausländer im entlegenen Chitral-Tal mußten sich registrieren lassen. Ich war Franzose geworden, ein Elsässer aus Straßburg. Der Reisepaß war echt, vor zwei Jahren von algerischen Extremisten aus der Präfektur in Mulhouse gestohlen. Abu Musa Handani ließ ihn in seiner Höhle für mich fälschen. Das Foto zeigte mich mit Vollbart und Glatze, ich hätte mich selber kaum wiedererkannt. Und noch ein Geschenk machte er mir zum Abschied: ein Satellitentelefon, technisch so manipuliert, daß es frühestens nach zwei Minuten zu orten war. Ich konnte also kürzere Telefonate führen, ohne von den Geheimdiensten entdeckt zu werden.

Ich hatte allen Grund, Handani dankbar zu sein, obwohl er ein Schwerverbrecher war. Hätte ich seine Gunst ausschlagen sollen, im Namen der Gerechtigkeit? War denn gerecht, was mir widerfuhr? Mit Hilfe eines kleinen Radios verfolgte ich über Kurzwelle, wie es um mich stand. Ich war »der Terrorist«. Nicht mehr und nicht weniger. Der Terrorist. Alle sprachen von Ralf Horenburg, kaum jemand von Karl Wiedemann. Vielleicht, weil meine Geschichte spannender war.



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