Der Untergang des Morgenlands by Egyd Gstättner
Autor:Egyd Gstättner
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
veröffentlicht: 2014-12-10T05:00:00+00:00
2. Tag
Du liebe Zeit, es schneit, es schneit! Es fetzt! Schneeflocken von oben, Schneeflocken von unten, von links, von rechts. Alles weiß: weiße Berge, weißer Himmel, weiße Nebel. Irgendwo da draußen vor der Tür hinter dem Weiß muss Lech sein. Den ganzen Winter lang haben wir daheim vergeblich auf eine einzige Schneeflocke gewartet. Immer war da unten eine Art kahler Frühling. Jetzt sind wir Ende März hier heroben auf tausendfünfhundert Meter und werden von Schneemassen förmlich erschlagen.
Das Zimmer ist nicht besonders groß und wirkt wegen der niedrigen Holzdecke und der marineblauen Wandfarbe dunkel. Aber es bietet jeden Luxus von der Badewanne bis zur Wärmeflasche, von den Filzpantoffeln bis zur Schlafmaske. Eine Schlafmaske hatte ich noch nie. Beim Abnehmen blendet der Schnee.
Wir sind eingeschneit.
Wir sind eingesperrt.
Wir sind gefangen und von der Außenwelt abgeschnitten.
Ich stelle mir vor: Die Straße hinunter in die Wirklichkeit musste gesperrt werden, Schneechaos, Lawinengefahr, was weiß ich.
Wir kommen hier nie wieder weg! Die nächste Panikattacke kommt bestimmt. Ich schiebe die Schlafmaske wieder vor die Augen.
»Na, ausgeschlafen?« So entnervt, übermüdet und von der Reise strapaziert wie ich gestern war, sieht man die Dinge freilich ein wenig verzerrt. Pamela sagt, ihr fange der Aufenthalt jetzt doch zu gefallen an. »Wie wär’s mit einer Schlittenfahrt? Immerhin befinden wir uns in einem weltberühmten Wintersportort in einer der prächtigsten europäischen Skiregionen in einem der allerbesten österreichischen Hotels. (Und wo auf der Welt gibt es bessere Hotels als in Österreich?) So ein Glück!« Noch ein Luxus, den man erwähnen sollte, ist die hauseigene Taschenbuchedition des Kristiania. Welches Hotel kann eine solche Einrichtung noch von sich behaupten, eine solche Errungenschaft noch für sich in Anspruch nehmen? Am Nachtkästchen liegt das Büchlein eines jungen Autors. Laut Klappentext eher ungenau in Norddeutschland geboren, lebt er jetzt in Vorarlberg. Im Vorwort schreibt die Herausgeberin und Hotelmanagerin Silvana Settembrini, ganz genau in Götzis auf die Welt gekommen, dieses Reisetaschenbuch möge den Gast in eine Welt der Poesie entführen, ihn inspirieren und neugierig machen. Es soll keine Selbstbeweihräucherung des Hotels sein, sondern ein Forum für junge Dichter und Denker, die erste Publikationsmöglichkeiten suchen. Christiania und zuvor Kristiania hieß übrigens bis in die zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts die norwegische Hauptstadt Oslo. In dieses Kristiania zog Henrik Ibsen, in Skien geboren, wo man nicht bleiben kann. Im Alter des jungen Vorarlberger Hoteldichters hatte er aber schon viele Publikationen hinter sich, etwa den »Peer Gynt«. Gleich einer der ersten Sätze im Büchlein lautet: Die Poesie ist die Bewegung zwischen den Schritten. Also so eine Art Adduktorenzerrung.
Die Empfangsdame im Trachtensakko sagt beim Frühstück: »Seems to become a perfect winter day!«
Ja, nur Ski fahren kann man nicht. Keine Fernsicht. Überhaupt keine Sicht auf der Piste. Die allerprächtigste europäische Skiregion nützt nichts bei diesem Wetter. Die meisten englischen und amerikanischen Gäste scheinen ohnehin verkühlt zu sein: »Good morning!« (geträllert) »Did you sleep well? Is your cold getting better?« »Not really!« Da kommt auch schon Madonna zum Frühstück. »Good morning! Good morning!« Sie trägt Fuchsfellstiefel, eine ärmellose weiße Bluse mit Stehkragen und darüber einen schulterfreien schwarzen
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