Der Traum vom Goldenen Berg by Zhang Ling

Der Traum vom Goldenen Berg by Zhang Ling

Autor:Zhang Ling
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Schöffling & Co.
veröffentlicht: 2014-01-09T05:00:00+00:00


KAPITEL 6

Die Fügung vom Goldenen Berg

1915–1922, Vancouver

und New Westminster, British Columbia

Meine geliebte Frau Suk Yin,

seit meiner Rückkehr zum Goldenen Berg ist bereits über ein Monat vergangen, aber eine Fülle von Sorgen und finanziellen Engpässen hat mich davon abgehalten, Dir eher zu schreiben, dass ich wohlbehalten hier angelangt bin. Während der Monate, die ich daheim bei Dir und Mutter verbrachte, hatte ich Land und Boden der Obhut meines Knechtes anvertraut. Nun brach aber schon im letzten Jahr eine Dürre aus, so dass die Ernte karg ausfiel; obendrein erkrankte ein Großteil des Viehs, so dass sich die Einnahmen dramatisch verringerten. Zu allem Überfluss nahmen vor Kurzem mehrere einheimische Familien Anstoß an meiner seit vielen Jahren geübten Praxis, mit dem Mist meines Viehs den Boden zu düngen, und zeigten mich unter dem Vorwurf, der Gestank überschreite jedes Maß und verletze die Hygienevorschriften, bei den hiesigen Behörden an, so dass mir ein beträchtliches Bußgeld drohte. Glücklicherweise besaß ein alter Freund aus den Tagen des Eisenbahnbaus, Rick Henderson, die Freundlichkeit, mir zur Seite zu stehen und einen vorzüglichen Rechtsanwalt zu meiner Verteidigung zu engagieren.

Aber meinen größten Kummer habe ich noch gar nicht erwähnt. Seit Kam Shan Anfang dieses Jahres von einem Stamm der Rothäute heimgekehrt war, schien er sich tiefgreifend verändert zu haben: Er bemühte sich nach Kräften, sich die nötigen Fertigkeiten für den Ackerbau und die Viehzucht anzueignen, und scheute keine körperliche Arbeit. Ich glaubte, der verlorene Sohn sei endlich geläutert, und war überglücklich – bis ich vor wenigen Tagen entdeckte, dass er sich mit einem christlichen Priester darauf verständigt hat, einer Dirne Unterschlupf zu gewähren, und dass er eben dieser Kreatur zu ihrem Unterhalt heimlich Geld und allerlei Wertgegenstände aus unserem Haus zugesteckt hat. Von klein auf ist Kam Shan von eigensinniger und aufsässiger Natur gewesen; der Junge ist unbelehrbar. Daher sah ich mich gestern gezwungen, ihn des Hauses zu verweisen. Umso mehr hege ich die Hoffnung, die Einnahmen aus Ackerbau und Viehzucht binnen zweier Jahre so weit zu vermehren, dass ich Dich endlich – je schneller, desto besser – hierher holen kann. Kam Shan hat Dir stets besonders nahegestanden, und so könnte eine Belehrung durch Dich bei ihm durchaus auf fruchtbaren Boden fallen. Um Mutter können sich mein Onkel und meine Tante kümmern, schließlich haben beide all die Jahre bei uns gewohnt und werden mit Freuden die Gelegenheit nutzen, uns ihre Dankbarkeit zu erweisen; deshalb weiß ich Mutter bei ihnen in den besten Händen. Für Kam Ho, der nun auch schon dreizehn Jahre zählt, können wir, sobald er volljährig ist, in Hoi Ping eine geeignete Frau suchen. In Bälde wirst Du auch das Kind, das Du im Leib trägst, gebären; gleich, ob Junge oder Mädchen, wir können es fürs Erste der Obhut von Onkel und Tante anvertrauen. Das dringlichste Gebot ist nun, Dir eine Schiffspassage zum Goldenen Berg zu besorgen. Dass wir Mann und Frau sind und doch so selten vereint, dass unsere Sehnsucht all die Jahre unerfüllt geblieben ist und ich mein Versprechen bis heute nicht eingelöst habe, das erfüllt mich mit tiefer Scham.



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