Der Tote auf dem Thron by Erpenbeck Fritz

Der Tote auf dem Thron by Erpenbeck Fritz

Autor:Erpenbeck, Fritz [Fritz, Erpenbeck]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: DIE-Reihe 037
Herausgeber: Verlag Das Neue Berlin
veröffentlicht: 1973-10-14T16:00:00+00:00


15

Karl Oschack, dem wir so manche Hilfe verdankten, hatte uns unter anderem schon mehrmals einen Raum neben seinem Arbeitszimmer zur Verfügung gestellt, in dem er die vielen Besprechungen und Sitzungen abhielt, die mit der Verwaltung einer Stadt nun einmal verbunden sind. Wenn dieser Raum, großsprecherisch „der Sitzungssaal“ genannt, frei war – meist in den frühen Nachmittagsstunden –, konnten wir dorthin Zeugen laden, um sie zu befragen, ohne gestört zu werden.

Als Bürgermeister hatte Karl Oschack übrigens von uns noch eine Aufgabe übernommen, die er, gestützt auf die verschiedenen Ressorts seines Magistrats, schneller und leichter lösen konnte als wir. Beispielsweise das Ermitteln von Anschriften ehemaliger KZ-Häftlinge, die in der Stadt lebten. Heute mutet so etwas wie eine Bagatelle an, damals war es für uns ein Problem, denn es existierte in unserer Stadt noch keine Organisation der Opfer des Faschismus, an die wir uns hätten wenden können.

Kaum glaublich, aber wahr: Wir vermochten nicht einmal festzustellen, in welchem Konzentrationslager das Tätowieren der Nummer auf dem Unterarm des Toten vorgenommen worden sein konnte. Weder Sepp Wüsterle noch zwei andere ehemalige Häftlinge, die wir befragten, kannten eine derartige Kennzeichnung. Allerdings meinte Wüsterle einschränkend, er glaube, solche bläulichen Zahlenreihen – wir hatten sie fotografieren lassen – in Auschwitz gesehen zu haben. Ich muß überdies erwähnen, daß uns damals nicht einmal sämtliche Standorte von Konzentrationslagern bekannt waren.

Der Tote war also noch immer nicht zu identifizieren. Nun, das wäre angesichts der ungeheuerlichen Anzahl der ermordeten und der wenigen noch lebenden Naziopfer auch ein extremer Zufall gewesen. Zumal sich das Äußere, etwa die Haartracht, der Bart und nicht zuletzt der Gesichtsausdruck, ganz zu schweigen von der Kleidung, wohl bei allen Überlebenden inzwischen stark geändert hatte. Da waren, wie wir gleich sehen werden, Unsicherheit und Irrtümer unvermeidlich.

Zu uns kam nämlich, von Karl Oschack geschickt, ein ehemaliger KZ-Häftling, ein Genosse, dem im Straßenbahndepot die Reparatur der noch halbwegs verwendbaren Waggons unterstand; es sollte demnächst auch die zweite Linie quer durch die Stadt wieder in Gang gesetzt werden.

Der Genosse sah sich sehr lange das Foto des Toten an. Dann sagte er zögernd: „Mir kommt dieses Gesicht bekannt vor. Aber vielleicht bin ich dem Mann nur in der Stadt begegnet. Doch nein, mir ist, als hätte ich ihn … das müßte im Juni oder Juli neunzehnhundertdreiunddreißig gewesen sein … ja, Ende Juli kam ich nach Börgermoor … als hätte ich ihn zuvor in Sachsenhausen gesehen. Wenn er es wirklich sein sollte, dann war er aber kein Politischer, sondern trug den schwarzen Winkel der Kriminellen. Man brachte ihn furchtbar zugerichtet in unsere Baracke, Rücken und Gesäß von Hieben zerfleischt und mit Nierenbluten. Aber wir haben ihn durchbekommen. Er erzählte uns, er wäre gar kein Krimineller, es handle sich um einen Racheakt. Er habe als Student einem Goldfasan die Frau abspenstig gemacht, eine Nutte, die mit jedem fremdging, und der habe ihn, ‚damit er deutsche Moral lerne‘, ins Lager schaffen lassen.“

Der Genosse betrachtete, während er sprach, immer wieder aufmerksam das Foto. „Er könnte es sein“, sagte er gleichsam abschließend. „Ich weiß sogar noch, wie er hieß, denn er hatte einen ganz ausgefallenen Namen: Zirp.



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