Der Tanz der Häsin by Dieter R. Fuchs
Autor:Dieter R. Fuchs [Fuchs, Dieter R.]
Die sprache: eng
Format: epub
Herausgeber: Fabulus Verlag
veröffentlicht: 2015-09-17T16:00:00+00:00
Himmelstränen
Es waren immer die gleichen Albträume, die Alexa Raven in vielen Nächten schweißgebadet aufschrecken ließen. Wirre Fantasien kreisten um eine boshafte, ihre geheimnisvolle Macht ausspielende Gauklerin, die eine Hasenmaske trug und willkürlich mit Glücksgeschenken oder Chaos ins Leben der Menschen eingriff. Nach dem zunächst optimistisch stimmenden Neubeginn in London hatte sich ihr der achte September neunzehnhundertfünfzehn auf immer in die Seele eingebrannt. Dieser Tag brachte den reinen Horror und den wiederkehrenden peinigenden Nachtmahr.
Ihre Heirat hatte sich problemlos arrangieren lassen und unter den neu angenommenen Namen Alexa und Bruce Raven hatten Boris und sie am Tag ihrer Heirat, dem vierten Juni neunzehnhundertvierzehn, noch voller Enthusiasmus in die Zukunft geblickt. Dann wirbelten bereits wenige Wochen später die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgerpaares in Sarajevo und eine hierauf folgende irrwitzige politische Kettenreaktion die Weltgeschichte durcheinander. Doch trotz des baldigen Kriegseintritts Britanniens kamen sie anfangs in der neuen Heimat gut zurecht. Die englische Niederlassung von Fabergé wurde neunzehnhundertfünfzehn allerdings geschlossen, denn wie befürchtet hatte der Zar zur Kriegsfinanzierung die Rückführung allen russischen Auslandskapitals in die Heimat angeordnet. Nicolas Fabergé blieb jedoch in London und baute sich dort eine neue Existenz als Photograph auf. Durch seine Vermittlung fand Bruce eine Stelle bei einem britischen Handelsunternehmen und auch Alexa trug durch stundenweise Anstellung im British Museum sowie kleinere Übersetzungsarbeiten etwas zum Lebensunterhalt bei. Man lebte bescheiden und genoss die kulturellen Angebote Londons, soweit finanziell möglich. Das Wichtigste für Alexa und Bruce war, dass sie endlich zusammen sein konnten, hieraus schöpften sie eine große Zufriedenheit und tief empfundenes Glück in jenen Tagen. Im Sommer neunzehnhundertfünfzehn zogen sie in eine Souterrainwohnung in die preiswertere Aldersgate Area in der Innenstadt um, unweit St. Paul’s, wo sie sich auch in der Kirchengemeinde engagierten.
Wie alle anderen verfolgten Alexa und Bruce voller Abscheu die Kriegsmaschinerie der Deutschen, die auf dem gesamten Kontinent wütete. Obwohl sich die Menschen auf den Britischen Inseln noch in einer gewissen Sicherheit wiegten, nahmen auch dort die Ängste stetig zu. Man las und hörte in den Medien seit Jahresbeginn neunzehnhundertfünfzehn viel über den grausamen Einsatz von Giftgas bei Warschau und das entsetzliche Leiden russischer Soldaten in den polnischen Urwäldern von Białowieża. Immer wieder kamen ihnen die eigene Unbekümmertheit und Ignoranz in den Sinn, mit denen sie einst auf die Worte ihrer Mitreisenden reagiert hatten. In ihrer früheren Heimat war inzwischen nichts mehr wie früher, selbst ihr geliebtes Sankt Petersburg gab es nicht mehr, es hieß nun Petrograd. Die alten Verbindungen und gemeinsamen kulturellen Wurzeln sollten in Russland durch eine völlige Abkehr von deutschen Namensgebungen ausgelöscht werden.
Die kleine Gemeinschaft von Exilanten aus Osteuropa, die sich regelmäßig in St. Paul’s traf, um für die in der Heimat verbliebenen Verwandten und Freunde zu beten, hatte sich auch am späten Abend des achten September dort versammelt. Alexa nahm dieses Mal alleine an der nächtlichen Andacht teil, denn Bruce lag zu Hause im Bett, von einer starken Grippe und Fieber gequält. Er wusste seine Frau in sicherer Gesellschaft, die sie auch nach Hause geleiten würde.
Was niemand in dieser mondlosen Nacht ahnte, war das Heranschweben eines Todesengels im schwarzen Himmel weit über ihnen.
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