Der Spion und der Analytiker by Pisani Liaty

Der Spion und der Analytiker by Pisani Liaty

Autor:Pisani, Liaty [Liaty, Pisani]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 1994-10-14T16:00:00+00:00


Guthrie verließ die Universität rechtzeitig für die Sitzung mit seinem neuen Patienten: einem Mann mit ruhiger und freundlicher Stimme, der ihn am Vortag angerufen und um einen Termin gebeten hatte. Er wurde von einem Kollegen geschickt, aber Guthrie hatte bis jetzt noch keine Zeit gehabt, Dr. Dietrich anzurufen, um sich dies von ihm bestätigen zu lassen. Er nahm sich vor, es gleich nach seiner Ankunft zu tun, aber dann blieb er im Verkehr stecken und konnte den Patienten erst mit fünfminütiger Verspätung empfangen. Er entschuldigte sich und sah unauffällig in seinem Notizbuch nach dem Namen: Stuart.

Ein eleganter Mann um die vierzig, der sich lächelnd in den Sessel setzte, den Guthrie ihm anbot.

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Doktor«, sagte er, während er sich niederließ. »Ich habe unterwegs selbst gesehen, was für ein Verkehr in Wien herrscht.« Er lächelte noch immer mit den Augen, die er amüsiert zusammenkniff. »Ich war schon seit Jahren nicht mehr in dieser Stadt, doch ich habe als Junge hier gelebt.«

»Sie sagten, Dr. Dietrich habe Sie an mich verwiesen …«

Der andere nickte.

»Gewissermaßen ist es so, auch wenn ich nicht meinetwegen hier bin, sondern um mit Ihnen über eine Person zu reden, die mir sehr nahesteht und die Hilfe braucht.«

»Dann handelt es sich wohl um einen Angehörigen.«

»Ja, auch wenn die Person, über die ich mit Ihnen reden will, nicht blutsverwandt mit mir ist. Meiner Meinung nach«, fuhr er im Plauderton fort, »spielt Blutsverwandtschaft sowieso keine große Rolle. Sagen wir, daß die betreffende Person mehr als ein Bruder für mich ist. Wir sind praktisch zusammen aufgewachsen.«

»Und um welches Problem geht es denn bei dieser Person?«

»Nun«, erwiderte Stuart nach kurzem Zögern, »mein Bruder ist dabei, vierzig Jahre seines Lebens wegzuwerfen wie einen alten Anzug. Wenn er das wirklich tut, wäre es für ihn ungeheuer schwierig, aber das ginge wohl jedem so, der sich eine neue Existenz aufbauen will.«

Guthrie beobachtete ihn aufmerksam. Irgend etwas an diesem Mann störte ihn.

»Entschuldigen Sie«, sagte er und stand auf.

Stuart nickte und sah aus dem Fenster, während er weiterrauchte.

Guthrie verließ das Sprechzimmer und betrat das Wartezimmer, wobei er die Tür hinter sich schloß. Er ging zum Nebenanschluß und wählte Dietrichs Nummer.

»Hallo, Dietrich? Danke gut. Ich rufe dich an, weil mir meine Sekretärin einen unentzifferbaren Eintrag in meinem Notizbuch hinterlassen hat. Hast du einen gewissen Stuart zu mir geschickt? Verstehe. Wir sehen uns morgen auf dem Kongreß. Ja, dieser Vortrag war tatsächlich sehr interessant. Also dann bis morgen, schönen Tag noch.«

Als er das Sprechzimmer wieder betrat, sah Stuart noch immer hinaus.

»Sie haben davon gesprochen, daß Sie Angst um Ihren Bruder haben«, sagte Guthrie, während er sich an den Schreibtisch setzte. »Können Sie mir das bitte etwas genauer erklären?«

Der andere sah ihn an. In seinem Blick lag jene Gefühlskälte, die Guthrie genau kannte. Auch wenn Tonfall und Worte echte Sorge um den angeblichen Bruder auszudrücken schienen, ließ er sich nicht überzeugen. Guthrie war nicht nur ein guter Psychoanalytiker, er besaß auch die Gabe, sich wie ein Schamane einzufühlen.

»Also, mein Bruder«, fuhr Stuart fort, »– wenn Sie gestatten, daß ich ihn so nenne – hat eine sehr bewegte Kindheit gehabt.



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