Der Spiegel im Spiegel by Ende Michael

Der Spiegel im Spiegel by Ende Michael

Autor:Ende, Michael [Ende, Michael]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Erzählungen, Literatur
Herausgeber: MIR
veröffentlicht: 1984-01-01T00:00:00+00:00


NACH BUREAUSCHLUSS

Stieg der Mann mit den Fischaugen in den zweiten Anhänger der Linie 6. Die Straßenbahn war überfüllt wie gewöhnlich um diese Zeit. Die Fahrgäste, in der Hauptsache Männer, hatten die Mantelkragen hochgeschlagen und die Hüte tief ins Gesicht gedrückt. Es war sehr kalt an diesem Abend, und der Mann beobachtete mit rundem, leerem Blick die Atemwölkchen, die aus vielen Mündern aufstiegen.

Eine Weile mußte er stehen, doch nach der fünften Station wurde ein Platz vor ihm frei, und er setzte sich. Bis zur Endstation war noch viel Zeit. Er zog eine Zeitung aus der Brusttasche seines Mantels, strich sie sorgfältig glatt und vertiefte sich in sie. Aus irgendeinem Grund gelang es ihm jedoch nicht recht, sich auf den Text zu konzentrieren. Er verstand den Sinn mancher Sätze nicht, auch nach mehrmaligem Lesen. Schließlich bemerkte er auf den folgenden Seiten, anfangs vereinzelte, doch dann immer häufigere Druckfehler. Offenbar waren durch Irrtum oder Nachlässigkeit des Setzers einzelne Wörter oder auch Zeilen, ja ganze Abschnitte in einem unbekannten Alphabet gedruckt. Vielleicht griechisch oder kyrillisch. Jedenfalls beschloß er, noch diesen Abend einen diesbezüglichen Beschwerdebrief an die Redaktion zu schreiben.

Die Fahrt, die er täglich zweimal machen mußte, morgens hin und abends zurück, nahm im allgemeinen eine Dreiviertelstunde in Anspruch. An schlechten Tagen, solchen mit größeren Verkehrstauungen, konnte sie allerdings mitunter sehr viel länger dauern. Doch waren ihm solche Verzögerungen eher angenehm als lästig. Er kam nicht gern in seine Wohnung. Er fühlte sich dort nicht zu Hause. Eigentlich hatte er sich noch nie und nirgends zu Hause gefühlt. Wenn die Kollegen im Bureau darüber sprachen, hörte er zu und versuchte vergebens, sich etwas darunter vorzustellen. Doch hatte er sich im Laufe seines Lebens an diesen Mangel gewöhnt wie an ein kleines körperliches Gebrechen, mit dem man sich wohl oder übel einrichtet. Da er allein lebte, war sein Tag unwiderruflich vorbei, sobald er die Tür seiner Wohnung hinter sich schloß. Solang er in der Straßenbahn saß, schienen ihm dagegen noch allerlei Möglichkeiten offen. Er dachte dabei an nichts Bestimmtes, es war allabendlich dieselbe kleine absurde Hoffnung und dieselbe kleine, kaum bewußte Enttäuschung.

Nach einiger Zeit blickte er von seiner Lektüre auf. Es überraschte ihn, daß der Wagen sich heute schon so früh fast völlig geleert hatte. Nur vier Personen waren noch übrig geblieben - oder vielmehr fünf mit ihm selbst. Ihm gegenüber saßen zwei dicke alte Frauen mit riesenhaften Einkaufstaschen, welche sie, einander mißtrauisch musternd, offenbar keinen Augenblick loszulassen gewillt waren. Beide Weiber waren in eine geradezu lächerliche Menge von Schals, Strickjacken und Wolltüchern eingemummt, beide trugen Handschuhe, welche die Fingerspitzen frei ließen. Soweit man ihre geröteten Gesichter in der Vermummung erkennen konnte, waren sie einander auffallend ähnlich. Vielleicht handelte es sich um Schwestern.

Etwas weiter saß ein armselig gekleideter kleiner Mann, der vor sich niederblickte und in gewissen Abständen ein wenig den Kopf schüttelte, als versuche er etwas zu verstehen, das er immer von neuem nicht verstand. Neben ihm stand ein zarter kleiner Junge mit einer Matrosenmütze auf dem langen Blondhaar, der vor sich hinsang, wobei er mit den Fingern Gucklöcher in die Eisschicht auf der Fensterscheibe schmolz.



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