Der Sinn des Lesens by Pieter Steinz
Autor:Pieter Steinz [Steinz, Pieter]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783159611396
Herausgeber: Reclam
veröffentlicht: 2016-07-10T16:00:00+00:00
29.
Das Kassenbuch meines Lebens
Elckerlijc (Den Spyeghel der Salicheyt van Elckerlijc) (1496)
15. November 2014
Allerseelen war der perfekte Tag für die neuerliche Lektüre des Elckerlijc, eines der schönsten Texte über das Ende, das immer nah ist, und die Notwendigkeit, sich darauf vorzubereiten. Es erinnerte mich an meine Schulzeit, in der das Theaterstück zum festen Lesestoff gehörte (den mittelalterlichen Text fand ich in meinem Bücherregal, in einer hässlichen Siebzigerjahre-Ausgabe). Und natürlich erinnerte er mich auch an den Jedermann des österreichischen Dramatikers Hugo von Hofmannsthal und den Roman Everyman von Philip Roth, besonders an Letzteren, in dem die aus dem 15. Jahrhundert stammende Allegorie in der Botschaft »Old age isn’t a battle; old age is a massacre« durchklingt. Doch ich hatte vergessen, wie schön und anrührend das Theaterstück ist. Für jedermann (elkerlijc) ganz allgemein, doch besonders für Menschen, die unerwartet mit dem nahenden Tod konfrontiert werden. »Och Doot, sidi mi soe bi / Als icker alder minst op moede?« – übersetzt: »Ach Tod, bist du mir schon so nah, / Da ich am wenigsten damit gerechnet hab?«
Im Elckerlijc wird dem Titelheld der Tod angekündigt. Er wird Gott Rechenschaft ablegen müssen und macht sich darüber ernsthaft Sorgen, denn »im Kassenbuch meines Lebens / Steht bitter wenig an Gutem geschrieben.« Außerdem weigern sich seine Freunde, seine Familie und seine irdischen Besitztümer (»Gheselscap, Maghe ende Neve en Tgoet«), ihn zu begleiten. Er beschließt, die Tugend zu bitten, doch sie ist zunächst zu schwach. Als er seinen letzten Gang antritt, stehen ihm nur die Schönheit, die Kraft, die Weisheit und die Fünf Sinne bei – und sogar sie verlassen ihn im Angesicht des Grabes. Schließlich sind es die in letzter Sekunde wiedererstarkte Tugend und die Selbsterkenntnis, die mit ihm ins Jenseits gehen. »Lass Neid und Habgier fahren / O Jedermann, das heißt: ihr alle. / Halt diesen Spiegel dir vor Augen, / Der weder Ruhm noch Reichtum sieht.«
Selbst für Ungläubige wie mich hält der Elckerlijc erbauliche Worte bereit, wenn auch nur insofern, als mir klar wurde, wer meine idealen Kumpane auf dem Weg zum Finish sind: die Liebe (gegen Verzweiflung und Einsamkeit), der Humor (die Fähigkeit, über das eigene Elend zu lachen), die Zufriedenheit (mit dem Leben, das man geführt hat) und die Schreiblust (Deadlines, um die final deadline auf Distanz zu halten). Doch mit dem Tod möchte ich mich fürs Erste noch nicht befassen, deshalb brachte mich das Theaterstück vor allem auf andere Weise ins Grübeln. Seit ich krank bin, bin ich einem Strom von Medikamenten, Hilfsmitteln und Fürsorgeleistungen ausgesetzt. Doch was hat mir wirklich etwas genützt? Welche medizinischen Errungenschaften begleiten den Elckerlijc in mir in der entscheidenden Phase seines Lebens?
Beginnen wir mit den Medikamenten: Sie können mir nicht wirklich helfen. Ein Heilmittel gegen ALS gibt es nicht, so oft auch in den Medien über russische Wunderdrogen und östliche Allheilmittel gesprochen wird. Über die Riluzol-Tabletten, die jedem ALS-Patienten verschrieben werden, bis er künstlich beatmet werden muss, habe ich wenig Positives zu berichten – der Zufall wollte es, dass es mir niemals schlechter ging als in den neun Monaten, in denen ich sie schlucken musste.
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