Der Sinn des Denkens by Markus Gabriel
Autor:Markus Gabriel
Die sprache: eng
Format: epub
Herausgeber: Ullstein eBooks
veröffentlicht: 2018-08-15T16:00:00+00:00
Stippvisite in Winden – Gesellschaft als soziales Atomkraftwerk
Vor diesem Hintergrund können wir zwischen Personalität und Individualität unterscheiden.
Personalität ist ein eingeübtes, von Situation zu Situation variables Rollenspiel, mittels dessen wir strategische Vorteile im sozialen Wettbewerb erstreiten oder aufrechterhalten. Dazu gehört etwas so scheinbar Unproblematisches wie unsere Fähigkeit, körperlich unversehrt durch den Alltag zu gelangen. Dass dies nicht selbstverständlich ist, sieht man nicht nur an prominenten Fällen wie dem syrischen Bürgerkrieg, sondern spürt es alltäglich auf der Ebene der permanenten unterschwelligen Gewalt in kapitalistisch angespannten Sozialsystemen, wie sie fortgeschrittene Industriegesellschaften entwickeln. Auch unsere Alltagswirklichkeit ist dauernd vom Ausbruch von Gewalt bedroht – man denke nur an die alltäglichen Einbrüche, Taschendiebe und brutalen U-Bahn-Schubser, von denen es besonders viele in Berlin und München zu geben scheint.
Individualität hingegen ergibt sich aus dem schieren Umstand, dass jeder von uns unvertretbar er selber ist. Heidegger nannte dies mit einem seiner unzähligen Neologismen auf Neudeutsch »Jemeinigkeit«123. Dass ich ich bin und ich immer dabei bin, wenn für mich irgendetwas stattfindet, macht meine Individualität aus. Ich bin ich und Sie sind Sie. Diese Eigenschaft ist unteilbar. Das Unteilbare heißt auf Lateinisch individuum (altgriechisch atomon).
Als Individuen sind wir prä-soziale Atome. Das heißt nicht, dass die Gesellschaft aus asozialen Individuen besteht. Vielmehr sind das Soziale und das Individuelle zwei verschiedene Sinnfelder, die sich partiell überlappen. Sie sind aber nicht identisch und auch niemals vollständig ineinander übertragbar. Deswegen entsteht eine Spannung zwischen beiden Sinnfeldern, die sich im Extremfall als systemische Gewalt entlädt.
Alles, was wir jemals erleben, erleben wir aus unserer Perspektive. Diese Perspektive besteht darin, dass uns dasjenige, was uns gerade betrifft, naturgemäß besonders wichtig erscheint. Der US-amerikanische Philosoph Tyler Burge (*1946) spricht in diesem Zusammenhang von einem ego-zentrischen Index, der durch die Perspektive von Lebewesen ausgebildet wird.124 Der ego-zentrische Index eines Lebewesens ist die Art und Weise, wie ihm seine Umwelt erscheint. Bereits auf der rein sensorischen Ebene des Informationsaustauschs zwischen Lebewesen und Umwelt wird ein Zentrum ausgebildet, das zwischen Relevantem und Irrelevantem – beispielsweise zwischen Nahrung und Nichtnahrung – unterscheidet.
Auf diese Weise hat jedes Lebewesen bereits unterhalb der Schwelle von Bewusstsein eine Perspektive, um die herum sich seine Umwelt ordnet. Diese Perspektive kommt bei allen Lebewesen, auch beim Menschen, auf einer nicht bewussten Ebene zustande, da wir ja keinen bewussten Zugriff auf all die Vorgänge haben, die im Hintergrund ablaufen müssen, wenn wir bewusste Vorgänge steuern wollen. Während Sie etwa vorhaben, diesen Absatz zu Ende zu lesen, werden elektromagnetische Vorgänge unterhalb Ihrer Schädeldecke mittels biochemischer Prozesse weiterverarbeitet. Zugleich aber wachsen auch Ihre Fingernägel, arbeitet Ihre Verdauung und so weiter. Alle diese Vorgänge werden in die egozentrische Perspektive des Lebewesens eingespeist.
Bei allem, was wir als Lebewesen jeweils tun, tauchen Lust und Unlust auf, das heißt die fundamentalen Reizsysteme, ohne die es für uns Menschen überhaupt keine Motivation gibt. Wir sind in jeder Situation von Krankheit, Tod und Gewalt bedroht und kompensieren dies durch ein Lustsystem, dank dem uns das Leben als sinnvoll und nicht nur als Jammertal erscheint. Wir haben also eine »libidinöse Ökonomie« eingerichtet, wie dies der französische Philosoph Jean-François Lyotard (1924–1998) ausgedrückt hat.
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