Der Schrei des Garuda: Roman (German Edition) by Ulli Olvedi
Autor:Ulli Olvedi [Olvedi, Ulli]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783426412749
Herausgeber: Knaur eBook
veröffentlicht: 2014-10-17T16:00:00+00:00
Noch bevor die erste zarte Helligkeit im Osten erscheint, tastet sich Dawa im Dunkeln die steilen Treppen hinunter. Tiefe Stille liegt über dem Dzong, selbst aus den Ställen ist kein Laut zu hören. Einer der Wachhunde hebt den Kopf und schaut ihr nach, als sie, in den alten Fellmantel gemummt, zum Tor eilt. Aus dem Wächterhaus dringt ein wenig Licht von einer Butterlampe. Sie kann Tenzins Stimme hören und die verschlafen brummenden Antworten des Wächters. Entschlossen hebt sie den Querbalken aus seinen Haltern. Die Hunde werden unruhig, als ihr der Balken aus der Hand rutscht und auf dem Boden aufschlägt. Sie huscht in den Mauerschatten und wartet mit angehaltenem Atem. Die Stimmen im Wärterhaus haben sich nicht verändert.
Mit der Last des Bündels auf dem Rücken zwängt sie sich durch die enge Lücke hinaus und zieht das Tor vorsichtig hinter sich zu. Der Weg zur steilen Seite des Bergvorsprungs, auf dem der Dzong errichtet ist, führt über einen felsigen Abhang. Sie stolpert immer wieder in ihren Filzschuhen. Die Zehen schmerzen. Mit jedem Schritt scheint das Bündel schwerer zu werden. Trotz der scharfen Morgenkälte kommt sie ins Schwitzen.
Der Geruch verrät die Nähe der Latrinen, kleine, mit Löchern versehene Balkone, die über den felsigen Steilhang ragen. Keuchend setzt sie sich auf einen Stein und tauscht ihre leichten Schuhe gegen die robusten Stiefel. Bald zeichnet sich ein Schatten gegen den heller werdenden Himmel ab; Tenzin ist ihr gefolgt. Leise ruft sie nach ihm. Als er sie erreicht hat, greift sie nach seinen Händen. Sie zittern wie die ihren.
»Alles gut gegangen?«
»Ja«, keucht er. »Der alte Tsering hat das Tor hinter mir verschlossen. Er hat nichts bemerkt.«
Sie verteilen die Last der Vorräte, ein Drittel für Dawa, zwei Drittel für Tenzin, und klettern eilig den Hang an seiner unwegsamen Seite hinunter. Im Tal schlagen sie einen weiten Bogen um das Dorf, und als es hell wird, steigen sie bereits im Schutz des mageren Waldes den nördlichen Hang hinauf. Ohne den Fluss ihrer gemurmelten Mantra-Rezitation zu unterbrechen, wirft Dawa einen letzten Blick zum Dzong zurück, bevor sie den Kamm des Berges überschreiten. Erst als die Sonne hoch am Himmel steht, macht sie Halt. Ihre Knie zittern von der ungewohnten Anstrengung. Vor ihnen liegt ein wildes Land. Steile, bewaldete Hänge und tief eingeschnittene Täler, in denen man sich verirren kann, wechseln einander ab. Tenzin ist ihr wortlos gefolgt, seine leise keuchende Rezitation und das Geräusch seiner gleichmäÃigen Schritte hat ein stetiger Wind mit sich fortgetragen. Anders als Dawa ist er das Wandern gewöhnt von den vielen Gängen zwischen seinem Kloster und dem Dzong.
»Wir müssen uns mehr nach Westen halten«, sagt Tenzin. »Hier kommen wir nicht mehr weiter.«
Dawa zieht die Kleider aus ihrem Bündel, die sie von nun an tragen wird, denn noch schaut der verräterisch gute Stoff ihres fürstlichen Kleides â ihr einfachstes â unter dem Mantel hervor. Sie beginnt sich auszuziehen und Tenzin wendet ihr den Rücken zu. Das Kleid, das Jangchub für sie gefunden hat, lässt seine ursprüngliche blaue Farbe nur noch ahnen, so ausgewaschen ist es. Doch wenigstens ist es weich und angenehm zu tragen.
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