Der Schmuggel über die Zeitgrenze by Chaim Noll
Autor:Chaim Noll [Noll, Chaim]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783957321039
Herausgeber: Verbrecher Verlag
veröffentlicht: 2015-04-15T16:00:00+00:00
Bei einem meiner Besuche begegnete ich zwischen den Bücherregalen und Papierstapeln einer jungen Frau. Sie war in weiches Leder gekleidet, Hose und enge Jacke, ihr Haar war kurz geschoren wie das eines Jungen, sie bewegte sich rasch und mit Entschiedenheit durch die Bücherberge und Papierstapel und warf mir einen Blick aus hellgrünen Augen zu. Ich hatte schon immer eine Schwäche für grüne Augen, besonders, wenn sie groß und kühn in die Welt blickten wie die der jungen Unbekannten. »Meine Tochter Sabine«, murmelte der Professor ungnädig, ihm schien nicht besonders an dieser Begegnung zu liegen. »Und das ist Herr Noll.« Eine Hand kam auf mich zu, lang, fein und klirrend von Silberschmuck, Ringen und Reifen, die wie ein Panzer bis zur Mitte des Unterarms reichten, ein Hauch von Parfum, dann sah ich ihr nach, wie sie zur anderen Tür ging und verschwand. Millionen junger Männer haben so auf Rücken und Beine junger Frauen geblickt und werden es tun, solange es Menschen gibt, mit einem taxierenden Blick, der sie binnen einer Sekunde ins Bild setzt, ob sie eine Attacke wagen oder nicht.
Sie schien etwas älter zu sein als ich und hatte ihr Studium bereits beendet, wie ich bei ersten Nachforschungen erfuhr. Außerdem war sie verheiratet. Alle vier Kinder Klemkes hatten früh geheiratet, mit zwanzig oder jünger, die Mutter achtete darauf, sie war streng katholisch. Deshalb sei Klemke nicht in der Partei, hieß es, obwohl er hohe Ämter bekleidete und ihm das Zentralkomitee der Partei im Neuen Deutschland zu runden Geburtstagen gratulierte, mit der in diesem Blatt sonst unüblichen Anrede: »Lieber Kollege Klemke«. Die Frau erlaube es nicht, hörte ich. »Wir betrachten ihn als parteilosen Genossen«, sagte mein Vater. Es berührte mich merkwürdig, dass der sonst so selbstbewusste Professor so viel Respekt vor seiner Frau hatte. Ich kannte Gertrud Klemke, wir hatten gleichzeitig auf Schloss Wiepersdorf einige Ferientage verbracht, im Erholungsheim des Ministeriums für Kultur, und am selben Tisch unsere Mahlzeiten eingenommen, ein, zwei Wochen lang, genug Zeit, um ins Gespräch zu kommen. Sie war eine dominierende, mütterliche Frau, eigensinnig, von sich überzeugt, dabei auffallend gutherzig und großzügig. In ihrer Jugend hatte sie Malerei studiert und war Gründungsmitglied des Verbandes Bildender Künstler gewesen, wo sie ihrem Mann die ersten Aufträge besorgt hatte. Einige Jahre arbeitete sie als Trickfilm-Zeichnerin, später probierte sie neue grafische Techniken, soweit ihre wachsende Familie ihr dafür Zeit ließ. Sie hätte ihrem Mann den Vortritt gelassen und ihm, wie sie es selbst nannte, »den Rücken freigehalten«. Am liebsten sprach sie von ihren Enkelkindern. Sie mache sich Sorgen, erklärte sie, ihre Töchter kümmerten sich nicht genug um die Kleinen, die jungen Frauen dächten nur noch an Beruf und Karriere, von den Männern sei sowieso nichts Vernünftiges zu erwarten, rasch würden die Kinder – falls man überhaupt noch welche hätte – in irgendwelchen Anstalten untergebracht, damit man weiter den eigenen Interessen nachgehen könne. Sie reiste einige Tage vor mir aus Schloss Wiepersdorf ab und hinterließ am Buffet eine Order, mir jeden Tag auf ihre Kosten Obstkuchen mit Schlagsahne zu servieren, für die gesamte Zeit, die ich länger blieb als sie.
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