Der Schieber by Cay Rademacher

Der Schieber by Cay Rademacher

Autor:Cay Rademacher [Rademacher, Cay]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-8321-8643-2
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Am Grab

Dienstag, 10. Juni 1947

Beim Frühstück sitzen sich Stave und sein Sohn schweigend gegenüber. Stave rührt lustlos im gräulichen Ersatzkaffee, sein Magen revoltiert schon, wenn er den Geruch der gerösteten Eicheln einatmet, sein Schädel schmerzt von tausend Nadelstichen. Karl sieht nicht besser aus. Der Kripobeamte wundert sich, was er vergangene Nacht wohl getan hat, unterdrückt aber jede Frage. Schweigen. Lähmende Hitze im Zimmer. Grelles Licht, das an der Rückseite der Augen schmerzt. Nur das leise Klingen des Blechlöffels ist zu hören, mit dem Karl in endlosen Kreisen seinen noch unberührten Ersatzkaffee umrührt.

Schließlich hält Stave es nicht mehr aus. Um überhaupt etwas zu sagen, wagt er einen Vorschlag. »Sollen wir Mama besuchen?«

»Sie wohnt noch nebenan?« Gespielte Überraschung, die alte Lust an Hohn und Spott. Stave ist beinahe erleichtert, dass Karl wenigstens seine Schärfe über die Kriegszeit gerettet hat. »Gehen wir zu ihrem Grab«, erwidert er.

»Liegt sie noch auf dem Öjendorfer Friedhof?«

Der Oberinspektor blickt Karl erstaunt an. »Wo sollte Mama sonst sein?«

Er zuckt die Achseln. »Hätte ja sein können, dass die Leute Kartoffeln anpflanzen, wie auf der Wiese vor der Universität.«

»Du warst an der Universität?«, entfährt es Stave. Blitzartige Hoffnung, plötzlich ist er hellwach. Dräng ihn nicht zu sehr, ermahnt er sich zugleich.

Karl geht darauf nicht ein. »Heute Nachmittag«, murmelt er. »Kannst du vom Dienst kommen? Dann gehen wir zum Grab.«

Stave hätte jetzt gerne über die Universität gesprochen, über Karls Zukunftspläne, über einen neuen Start ins Leben. Und, wer weiß, vielleicht hätte er dabei irgendwann unauffällig seine eigenen Träume erwähnen können. Anna. Besser nicht. Nur Geduld. »Ja«, antwortet er. »Wartest du in der Wohnung auf mich?«

»Ich werde hier sein.«

Im Vorzimmer zu seinem Büro bleibt der Oberinspektor irritiert stehen: leer. Ob Erna Berg sich unwohl fühlt, es bei ihr so weit ist? Oder hat ihr Fehlen mit dem drohenden Prozess zu tun?

Ein Kollege klopft an. »Wir sollen zu den Landungsbrücken.«

»Alle Mann?«

»Befehl von Cuddel Breuer. Waffen sind mitzuführen.«

Das fehlt mir noch, denkt Stave. Unterwegs hört er sich bei den Kollegen um: Britische Pioniere sind morgens bei Blohm & Voss eingerückt. Sie werden die großen Kräne und Helligen sprengen. Das hat sich irgendwie in der Stadt herumgesprochen und nun eilen immer mehr Hamburger zum Elbufer und starren hinüber zur Werft.

Cuddel Breuer teilt Stave vor Ort einigen Kollegen zu, die sich unter die Wartenden an der Hochbahnhaltestelle Baumwall mischen sollen. Die Station ist voller Menschen, dem Oberinspektor kommt es so vor, als schwankten die hohen Stahlträger unter dem Gewicht der Menge.

Männer, Frauen, Kinder. Die Haltestelle ragt mehr als zehn Meter über der Hafenpromenade auf, freier Blick über die Elbe und die riesigen Docks von Blohm & Voss. Kein lautes Wort, kein Protestplakat, kein Knüppel, niemand, der aufrührerische Reden hält. Stave ist trotzdem angespannt: überall verbitterte Gesichter, geflüsterte Worte. Fast kann man die unterdrückte Wut wie Elektrizität in der Luft knistern hören.

Drüben ist kaum etwas zu sehen. Die Kräne und Helligen stehen wie hohe Spinnentiere über den Werftanlagen, lückenhafte Reihen, denn viele sind schon im Krieg zerbombt worden. Winzige Gestalten auf und neben den Docks, so undeutlich



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