Der Scharlachrote Buchstabe by Nathaniel Hawthorne

Der Scharlachrote Buchstabe by Nathaniel Hawthorne

Autor:Nathaniel Hawthorne [Hawthorne, Nathaniel]
Die sprache: deu
Format: epub, mobi
veröffentlicht: 2011-05-03T16:00:00+00:00


13.

HESTERS VERWANDLUNG

Hester Prynne war bei ihrer mitternächtlichen Begegnung mit Pastor Dimmesdale über dessen Zustand wahrlich zu Tode erschrocken. Seine Nerven waren völlig zerrüttet, seine sittliche Kraft in kindische Schwäche erniedrigt. Nur seine geistigen Fähigkeiten bewahrten noch ihre einstige Stärke oder entwickelten vielmehr eine geradezu unnatürliche Spannkraft, wie dies häufig bei Schwerkranken der Fall ist. Da sie allein die Umstände kannte, die hier vorwalteten, drängte sich ihr gar bald der Gedanke auf, daß es nicht nur die Qual des eigenen Gewissens sein könne, welche diesen Mann so vollständig dem Verfalle zuführe, sondern daß darüber hinaus eine fremde Gewalt mit unsagbarer Grausamkeit seine Seele durchwühlen und ihm alle Ruhe und Gesundheit rauben müsse. Sie wußte, was dieser Mensch einst gewesen – und nun hatte er sich an sie, die Ausgestoßene, um Hilfe gegen den Feind gewandt, den nur eine Ahnung seines Bewußtseins ihm verriet! Sie schauderte bis in die Tiefen ihrer Seele, aber sie fühlte auch, daß der Prediger ein Recht auf ihre äußerste Hilfe habe! In ihrer langen Einsamkeit gewohnt, Recht und Unrecht nur nach den Maßen ihres eigenen Gewissens zu messen, erkannte sie deutlich, daß sie dem Geistlichen gegenüber Verpflichtungen habe, die stärker waren als alles, was sie sonst mit der Welt verband. Es war die eherne Kette gemeinsamer Schuld, die weder er noch sie zu zerreißen vermochten und die ihnen beiden auferlegt war als unabänderliches Schicksal.

Hester Prynne nahm zu dieser Zeit bei ihren Mitbürgern nicht mehr dieselbe Stellung ein wie am Anfang ihrer Schmach. Sieben lange Jahre waren seitdem vergangen und die Leute der Stadt waren längst daran gewöhnt, den scharlachroten Buchstaben mit seiner prächtigen, golddurchwirkten Stickerei auf ihrer Brust zu sehen. Und wie es oft geschieht, wenn sich jemand auf irgend eine Weise von den übrigen Menschen unterscheidet, ohne dadurch dem einzelnen oder der Gesamtheit den geringsten Abbruch zu tun, so brachte man auch Hester Prynne nach und nach eine gewisse Achtung entgegen. Es gereicht der menschlichen Natur zur Ehre, daß sie, wo nicht besondere Selbstsucht im Spiele ist, eher zu lieben als zu hassen geneigt ist. Ja, selbst Haß vermag sich langsam und unvermerkt in Liebe zu wandeln, wenn dieser Prozeß nicht durch ein neues Aufflackern der alten feindlichen Stimmung unterbrochen wird. Im Falle Hester Prynnes gab es keine solche wie immer geartete Unterbrechung. Sie kämpfte niemals gegen die öffentliche Meinung an, sondern ließ alles ohne Widerspruch über sich ergehen, ja nicht einmal auf Mitgefühl erhob sie Anspruch. Auch die untadelige Sauberkeit ihres Lebenswandels während dieser sieben Jahre sprach in hohem Maße zu ihren Gunsten, hatte sie doch nichts mehr zu gewinnen noch zu verlieren als die Ruhe ihres eigenen Gewissens.

So forderte Hester von der Umwelt niemals mehr, als die freie Luft atmen und mit ihrer Hände Arbeit für sich und das Kind das tägliche Brot verdienen zu dürfen. Gleichzeitig aber war sie stets und ohne Zaudern bereit, wenn es galt, ihren Mitmenschen zu helfen. Keine gab so gerne von ihrer geringen Habe, um die Not der Armen zu lindern, mochten ihr diese auch oft ihre Wohltaten mit Hohn und Spott vergelten.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.