Der Rote by Kegel

Der Rote by Kegel

Autor:Kegel
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: General Fiction
veröffentlicht: 2014-02-14T16:00:00+00:00


Eine knappe Stunde später machte Hermann nach einem letzten Rundblick kehrt. Aus Süden kam ihm wieder die Otago entgegen. Wie oft sie die Strecke wohl schon hinter sich gebracht hatte? In ihren Computern setzte sich langsam, Messpunkt für Messpunkt, das Sonarbild des Meeresbodens zusammen. Vielleicht wurde in diesen Minuten die Frage beantwortet, was hier geschehen war.

Während er unten am Wasser auf die hinter dem Fluss aufragende Steilwand zulief, wurde ihm klar, wie weit es ihn nach Norden verschlagen hatte. Er wollte sich unbedingt den Wal noch einmal ansehen, bevor sie ihn unter Sand und Steinen verschwinden ließen, hatte plötzlich Angst, zu spät zu kommen, versuchte, etwas schneller zu gehen, und blickte dabei meist auf den Boden, um nicht zu stolpern und keine nassen Füße zu bekommen. Hoffentlich warteten die anderen nicht auf ihn.

Er musste an den Roten denken. Barbara hatte gesagt, sie seien mit ihrem Boot auf Kalmare gestoßen, weit draußen über dem Canyon. Sie hatte sie als sehr groß, wirklich riesig beschrieben, ihre Worte waren ihm noch genau im Ohr. War es immer dasselbe Tier oder waren es mehrere? Viele der größeren Tiefseekalmare waren rot. Es gab Fotos. Er durfte nicht vergessen, sie danach zu fragen.

Oder war er dabei, sich in eine fixe Idee zu verrennen? Hermann bedauerte jetzt, dass er dem Leben im ufernahen Wasser nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Aber er war davon ausgegangen, dass alles, was halbtot im Meer schwamm, ohnehin bei ihm am Strand landen würde. Und der Rote? Vielleicht war er quicklebendig und hatte sich in tieferes Wasser zurückgezogen. Bisher hatte Hermann Geschichten um Meeresmonster für Märchen gehalten, für schamlose Übertreibungen: angeblich tellergroße Narben von Saugnäpfen auf der Haut von Pottwalen, in ihren Mägen Augenlinsen groß wie Handbälle. Der Octopus giganteus. Hirngespinste. Fotos wurden ohne Maßstab abgebildet, sodass den Tieren jede Größe angedichtet werden konnte. Einer schrieb vom anderen ab und addierte ein paar Zentimeter hinzu. In der Tiefsee konnte man so ziemlich alles ansiedeln, ohne befürchten zu müssen, von der Realität widerlegt zu werden, die ideale Spielwiese für Monsterfreaks. Er konnte sich mit diesen Leuten nicht auf eine Stufe begeben. Deshalb hielt er die Kamera mit dem schweren 300-mm-Objektiv einsatzbereit und warf sehnsüchtige Blicke auf das Wasser hinter dem Brandungssaum. Er brauchte Beweise. Bitte, flehte er in Gedanken, ich weiß, dass du da bist. Zeig dich!

Als ihm aber die Meute um den gestrandeten Wal einfiel, zog er seinen Wunsch sofort zurück. Nein, besser nicht, sie durften den Roten nicht zu sehen bekommen. Nicht auszudenken, was hier los wäre, wenn die Zeitungen morgen ein Foto von ihm druckten. Sie würden den Roten – und alle anderen Kalmare auch – zu Ungeheuern machen.

Im Auf und Ab der anrollenden Dünung tauchte eine dunkle Rückenfinne auf und war kurz darauf wieder verschwunden. Obwohl er es eilig hatte, blieb er stehen. Nach einigen Minuten wälzte sich unverkennbar der Rücken eines kleinen Delphins durch das Wasser, der erste, den er in der Bucht entdeckte, seit er nach dem Unglück hierher zurückgekehrt war. Hermann begrüßte ihn mit einem freudigen Hallo, suchte aber vergeblich nach seinen Begleitern.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.