Der Milchmann in der Nacht by Kurkow Andrej

Der Milchmann in der Nacht by Kurkow Andrej

Autor:Kurkow, Andrej [Kurkow, Andrej]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 9783257606027
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2014-12-16T23:00:00+00:00


[273] 64

Kiew. Jaroslaw-Wall. Bar ›Dalí‹.

Gegen zehn abends bat der Barmann des Café ›Dweri‹ – zu deutsch ›Türen‹ – Semjon und Wolodja, sich woanders hin zu begeben. Die ›Türen‹ schlossen sich bereits.

Semjon war nicht danach, vom Tisch aufzustehen. Nicht so sehr wegen des getrunkenen Whiskys als aus Furcht, es könnte die von Wolodja eingehend beschriebene Kette der Ereignisse der vergangenen Nacht, bei denen er, Semjon, die Hauptrolle gespielt hatte, in seinem Bewusstsein zerstören. Hätte er das Ganze im Gedächtnis gehabt, dann wäre er ruhiger gewesen. Das Gedächtnis verliert manchmal Einzelheiten, doch gestattet es, sie schnell wiederherzustellen. Man muss manchmal nur eine vergangene Einzelheit wiederbeleben, und die Details springen heraus wie das Teufelchen aus der Kiste. Aber das Problem war, dass Semjon nicht Zeuge der Ereignisse gewesen war, an denen er mitgewirkt hatte. Und erst von seinem Freund zu hören, was man getan hat, so was passiert einem ja nicht jeden Tag! Natürlich kommt es vor, dass jemand sich betrinkt und später seine Kumpels fragt, was er für Unsinn getrieben hat. Semjon trieb aber keinen Unsinn. Semjon lebte ohne seinen Willen ein ihm unbekanntes Parallel-Leben. Und wäre da nicht Wolodja, dann wüsste er gar nichts von seinem zweiten Ich, dessen zweites Leben sich nicht mit dem ersten kreuzte.

»Und, wie war sie?«, fragte Semjon Wolodja aus.

»Schon älter, um die sechzig. Es war schlecht zu sehen! Du hast ihr die Hand geküsst, und sie hat ein Kreuz über [274] dir geschlagen, nur irgendwie komisch, nicht orthodox. Außerdem hat sie wohl mit dir geschimpft. Ich habe es nicht gehört, aber euer Gespräch war eindeutig keins der angenehmen Art. Dann hat dein Handy geklingelt, du hast ein paar Minuten mit jemandem geredet und dann das Telefon an sie weitergereicht. Sie hat länger geredet und dir nach dem Gespräch eine Tüte gegeben. Du hast noch in die Tüte reingeschaut, und sie hat dir irgendwas erklärt.«

»Um wieviel Uhr war das?«, fragte Semjon nachdenklich und holte sein Handy heraus.

»Gegen zwei.«

Semjon überprüfte die eingegangenen Anrufe. Um 1Uhr 45 hatte man ihn von einer unterdrückten Nummer aus angerufen.

»Und wohin ist sie dann gegangen?«, fragte Semjon und sah seinen Freund wieder an.

»Ich weiß nicht, ich habe dich nach Hause begleitet. Da haben doch noch zwei andere euer Gespräch beobachtet. Und ich hatte Angst, sie gehen dir vielleicht gleich hinterher.«

»Und diese Tüte?«

»Du hast sie nach Hause getragen.«

»Tja.« Semjon seufzte, wandte sich der Theke zu und begegnete wieder dem erschöpften Blick des Barmanns.

»Schon gut! Wir gehen!«, sagte er beruhigend zu ihm.

Sie durchquerten die Höfe, die die Rejtarskaja mit dem Jaroslaw-Wall verbanden, und stiegen in die in einem gemütlichen und geräumigen Keller gelegene Bar ›Dalí‹ hinunter, setzten sich in eine Ecke gegenüber der Küche, bestellten zwei Tequila und tranken schweigend.

[275] »Alissa war nicht da?«, fragte Semjon plötzlich.

»Nein, diesmal hast du dich nicht mir ihr getroffen.«

»Mein Gott«, seufzte Semjon. »Wie soll das noch alles enden?«

»Mit der Hochzeit«, scherzte Wolodja traurig. Dann hellte sein Blick sich auf, als sei ihm ein unerwarteter Gedanke gekommen. »Hör zu! Kauf dir ein digitales Diktiergerät und näh es dir unter den Kragen.



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