Der Mann, der auf Bäume klettert by James Aldred

Autor:James Aldred
Die sprache: deu, deu
Format: epub
Herausgeber: Ludwig Buchverlag
veröffentlicht: 2018-02-28T16:00:00+00:00

KAPITEL 6

Roaring Meg – Australien

2008

Es war ein warmer Herbsttag in den gemäßigten Regenwäldern des Hume Plateau in Südostaustralien. Die Luft war erfüllt von dem würzigen Aroma des Eukalyptusöls, das in der Nachmittagshitze von den Blättern verdunstete. Dieser Dunst hing wie ein zarter bläulicher Schleier zwischen den Bäumen – der sichtbar gemachte Atem des Waldes. An einen riesigen umgestürzten Baumstamm gelehnt, atmete ich tief ein, um so viel wie möglich von der aromatischen Luft in meine Lungen aufzunehmen. Beim Ausatmen wurde mein Herzschlag ruhiger. Ich fühlte mich entspannt, und es tat gut, nach dem langen Flug von England nach Melbourne endlich wieder die Beine zu strecken.

Was war das für eine Reise gewesen. Fast 24 Stunden im Rumpf einer Boeing 747 eingekeilt, umgeben von betrunkenen Jugendlichen, die gerade ihr Auslandsjahr antraten. Aber jetzt war ich hier, und es gab keine Zeit zu verlieren. Wir hatten nur drei Tage, um einen halbstündigen Film über den Aufstieg und die Übernachtung auf einem der größten Bäume der südlichen Hemisphäre abzudrehen. Das war gerade so machbar, wenn alles nach Plan lief. Aber Guy, unser Moderator, war noch nie im Leben auf einen Baum gestiegen. Wahrlich ein Sprung ins kalte Wasser! Er würde sich das Metier sehr schnell aneignen müssen, so viel war sicher. Ich machte mir aber keine großen Sorgen: Er schien mir geschickt genug und bereit, sich der Herausforderung zu stellen. Wir würden ihn anlernen können, wenn er morgen zu uns stieß. Vor allem aber mussten wir erst einmal einen passenden Baum finden, und wie üblich war das leichter gesagt als getan.

Zum Glück befanden sich zwei der besten australischen Baumexperten unter meinen Begleitern bei diesem Abenteuer. Tom und Brett hatten die meisten der Baumriesen des Landes entdeckt, bestiegen und vermessen, und der gestürzte Riese in meinem Rücken bezeugte, dass Australien die Heimat etlicher sehr hoher Bäume ist.

Eucalyptus regnans, hierzulande bekannt als Königs-Eukalyptus, ist die zweithöchste Baumart auf der Erde, übertroffen nur vom Küstenmammutbaum in Kalifornien. Der größte bislang entdeckte Königs-Eukalyptus ist ein knapp 100 Meter hoher lebender Wolkenkratzer namens Centurion in Tasmanien. Knapp dahinter folgt die Douglasie in Oregon (ein Nadelbaum, wie der Küstenmammut). Auch die viert- und fünftgrößten Baumarten sind Nadelbäume im Nordwesten der USA. Insofern ist der australische Königs-Eukalyptus tatsächlich ein Ausnahmebaum: bei Weitem der größte Bedecktsamer – Blütenpflanze – des Planeten und mit Sicherheit das größte Lebewesen der südlichen Hemisphäre.

Viele Leute – nicht nur Australier – halten den Königs-Eukalyptus sogar für den einstmals größten Baum auf Erden. Legenden von 130 Meter hohen Giganten ragen schemenhaft aus den Nebeln des 19. Jahrhunderts. Aber solche Themen sind eher etwas für botanische Pedanten. Tatsache ist, dass die nahezu 100 Meter hohen Riesen, die ich auf unserer Fahrt von Melbourne gen Norden als verlockende Perspektive von der Rückbank des Geländewagens aus erspähen konnte, bei Weitem die größten Lebewesen waren, die ich je gesehen hatte.

Solange ich zurückdenken konnte, war ich besessen von dem Gedanken, diese ehrwürdigen Wälder zu besuchen. Für einen Baumliebhaber besaßen sie legendäre Anziehungskraft. Der tote Stamm in meinem Rücken fachte meine Sehnsucht nur noch mehr an, und ich konnte es kaum erwarten, mit so einem Königs-Eukalyptus auf Tuchfühlung zu gehen.

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