Der Lotse · Helmut Schmidt und die Deutschen by Rupps Martin

Der Lotse · Helmut Schmidt und die Deutschen by Rupps Martin

Autor:Rupps, Martin [Rupps, Martin]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Biographie & Autobiographie
ISBN: 9783280055533
Herausgeber: Orell Füssli Verlag
veröffentlicht: 2015-10-02T00:00:00+00:00


Helmut Schmidt und Christiane F.

Henri Nannen, Chef des Magazins »Stern«, findet nach seinem Urlaub das Manuskript zweier Redakteure vor, die eine junge Berlinerin über ihr bisheriges Leben interviewt haben. »Christiane F.« war heroinabhängig und ging zur Finanzierung des Stoffs auf den Strich. Sie wird wegen ihrer Drogendelikte vor Gericht gestellt, wo sie einer der »Stern«-Kollegen kennenlernt. In vielen Gesprächen, die der Gerichtsverhandlung folgen, versucht er zu verstehen, weshalb ein junges, intelligentes Mädchen einen solchen Weg genommen hat.

Die »Stern«-Redakteure Kai Hermann und Horst Rieck reden auch mit Christianes Mutter und früheren Mitgliedern ihrer Drogenclique. Aus alledem entsteht ein Manuskript, das im »Stern«-Haus durch mehrere Hände geht und dabei so schwer wiegt wie Blei. Keiner der leitenden Redakteure, so lautet die Sage, traut sich so recht an das Thema, keiner erkennt das Potenzial der Geschichte. Will der bürgerliche »Stern«-Leser, der von seiner dunkelgrünen, mit Fransen behangenen Couch aus auf eine Schrankwand in Eiche rustikal blickt, von Junkies und Babystrich lesen? Will er sich mit Christianes Leben zwischen fiesen Dealern, schmierigen Freiern und drogenkranken Freunden auseinandersetzen? »Der Text galt zunächst als nicht druckbar. Bis Henri Nannen eingriff«, so die »Stern«-Selbstdarstellung im Jahr 2013.[273] Der Chef will das Manuskript fasziniert in einer Nacht gelesen und am folgenden Tag zu einer Titelgeschichte erklärt haben. Am 28. September 1978 startet der »Stern« die Serie »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«, anschließend erscheint das Manuskript in der vorsichtig kalkulierten Erstauflage von 20 000 Exemplaren als Buch – das Vorwort stammt von Horst-Eberhard Richter.

Die Publikation erweist sich als Glücksfall für Christiane und auch für Nannens Blatt – das Thema erfährt eine überwältigende, alle Erwartungen sprengende Resonanz. Christianes nie schmalzige, weil nie mitleiderheischende, sondern kühl und selbstkritisch erzählte Lebensbeichte wühlt Millionen von Menschen auf. Die westdeutsche Gesellschaft schaut erstmals auf ihren unappetitlichen Rand.

Christiane tauscht die Anonymität einer Drogensüchtigen und Kleinkriminellen gegen die Rolle einer öffentlichen Person mit einer kontrovers diskutierten Biografie. Der »Stern« landet mit der Serie und noch mehr mit dem Buch einen beispiellosen Verkaufserfolg, es wird für Jahre zum Bestseller (Gesamtauflage in zwanzig Ländern: fast fünf Millionen Exemplare). Mit den Tantiemen hat Christiane, die beruflich nie Fuß fassen kann, ein wirtschaftliches Auskommen.

Als Uli Edel 1981 ihre Jugendjahre am Bahnhof Zoo auch noch verfilmt, erlangt die Protagonistin internationale Bekanntheit – von Ruhm mag man in diesem Zusammenhang nicht sprechen. Der eindringliche Film führt Christianes Schicksal und damit jenes gesellschaftlich randständige Milieu weltweit insgesamt 4,7 Millionen Kinobesuchern buchstäblich vor Augen.

Wie kann Christianes Geschichte zur »meistgelesenen Geschichte seit Schneewittchen und Winnetou« werden, wie der »Spiegel« schreibt?[274] Er hält ihre Wirkung für so epochal wie die von Frank Wedekinds »Frühlings Erwachen«, das die Sexualnot von Jugendlichen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beschreibt, und von Goethes »Werther«, der schon im 18. Jahrhundert vorführt, wie unerfüllbares Liebessehnen in Lebensüberdruss mündet.[275]

Natürlich, Hans-Jürgen Wirth hat recht mit seinem Hinweis, dass nicht wenige Leser aus Voyeurismus zum Buch greifen[276] – schonungslos erzählt Christiane von Mädchen, die noch halbe Kinder sind, als sie auf den Strich gehen, von den Wünschen der Freier und von schmerzhaften Wechselbädern zwischen Heroinkonsum und Heroinentzug.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.