Der Lebens-Automat by Dean R. Koontz

Der Lebens-Automat by Dean R. Koontz

Autor:Dean R. Koontz
Die sprache: deu
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 2014-05-26T22:00:00+00:00


Dezember

Sie saß auf der zusammengelegten Decke, so daß sie über das Armaturenbrett hinwegsehen konnte. Gespannt beobachtete sie, wie das Land auf sie zuraste. Die Welt war unendlich reicher und vielfältiger als das Land der Bühnenkulissen. Sie war unermeßlich groß, viel größer als ein Theater.

Der Schnee faszinierte sie. Oft blickte sie in den stahlgrauen Himmel hinauf. Er erschien ihr wie ein riesiger Salzstreuer, der die Erde würzte.

»Was ist das?« fragte sie.

»Was?«

»Schnee.«

»Schnee eben.«

»Wer macht ihn?«

Er blieb stumm, während der weiße Vorhang über sie hinwegglitt. Sie fuhren nach Norden, durch das unwirtlicher werdende Land auf den Pol zu.

»Ich fragte nicht danach«, sagte er schließlich.

»Was?«

»Pertos. Sagte mir nie, was … was Schnee ist.«

»Können wir anhalten?«

»Warum?«

»Damit ich den Schnee anfassen kann. Ich möchte wissen, wie er sich anfühlt.« Sie hatte die größten und schönsten Augen, die man sich denken konnte, und er konnte ihnen nichts abschlagen.

Er verlangsamte die Fahrt und hielt dann auf einem Rastplatz, ohne den Motor abzustellen. Er öffnete ihr die Wagentür. »Rasch!«

Sie hüpfte hinunter in den Schnee. Sie trug ihr Kostüm, das ihr knapp zum Schenkel reichte, und ihre dünne Bluse. Ihre Füße waren bloß.

»Er ist kalt!« rief sie schlotternd, »und er ist naß!«

Sie formte einen Schneeball mit ihren winzigen Händen und schleuderte ihn in das Fahrerhaus. Er hob ihn von der Sitzbank und schleuderte ihn zurück.

»Steig ein!« rief er. Ihm gefiel es nicht, wenn sie sich aus seiner Reichweite entfernte. Er hatte Angst, sie würde zu flüchten versuchen, obwohl er wußte, daß sie dem Bannkreis des Ofens nicht entkommen konnte. Manchmal hatte er das Gefühl, Bitty und er seien die letzten lebenden Bewohner der Erde. Wenn sie entfloh, würde er für immer einsam bleiben.

Sie kletterte wieder in das Führerhaus. Sebastian zog die Tür neben ihr zu.

»Naß und kalt«, wiederholte sie.

Er lenkte zurück auf die Fahrbahn. Er fuhr bis in die späte Nacht hinein und hielt erst an, als seine Augen vor Müdigkeit streikten. Sie begegneten keinem anderen Wagen und sahen kein Flugzeug. Nur der Laster und der Schnee schienen sich in der Landschaft zu bewegen.

Am vierten Tag, ein paar hundert Meilen nordwestlich von Samuels' Blockhaus, stellte sie die Frage, die er schon lange erwartete und gefürchtet hatte: »Wann wirst du die anderen zum Leben erwecken?«

»Die anderen?« Doch er wußte ganz genau, was sie meinte.

»Wissa und den Prinzen. Die anderen. Sie müssen ja doch für die Vorstellung geweckt werden. Deswegen kann es genausogut gleich jetzt geschehen.«

»Keine … Vorstellung«, sagte er.

Sie dachte eine Weile nach, als hätte sie diese Antwort überhaupt nicht überrascht. »Trotzdem kannst du sie zum Leben erwecken. Sie haben ihre Rechte genauso wie du.«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Nein.«

»Du mußt doch einen Grund dafür haben! Die Menschen tun nichts ohne Grund!«

»Spinnen«, sagte er, obwohl er selbst nicht wußte, was er mit dieser Antwort meinte.

»Spinnen?«

Er schwieg, fuhr weiter und beobachtete den Schnee. Er hoffte, sie würde nicht mehr auf diesen heiklen Punkt zu sprechen kommen. Schon die Vorstellung, von vielen lebenden Puppen umgeben zu sein, jagte ihm Angst ein. Schließlich hielten sie sich beide längst nicht mehr an ihre vorgeschriebenen Rollen, an das Textbuch, das ihnen ihr Leben vorzeichnete.



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