Der Konvoi by Hartmann Lukas

Der Konvoi by Hartmann Lukas

Autor:Hartmann, Lukas [Hartmann, Lukas]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 978-3-257-60224-1
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2015-05-23T16:00:00+00:00


[105] 13. November 1918, früher Morgen

Wieder Wald. Wenn man den Städten ausweicht, durch fährt man Wälder; dass es im Mittelland so viel Wald gibt, hat Samuel nicht gewusst. Es gab den Märchenwald, als er klein war, darin verirrten sich Hänsel und Gretel, die Eule umkreiste Joringel, um ihn zu bannen. Es gab die winzige Lichtung in seinem Wald, die ein Geheimnis war, weil nur er und Julia sie kannten, diesen zimmergroßen, bemoosten Fleck im Unterholz; es gab später die Nachmittage, an denen sie Heidelbeeren sammelten und ihre Finger und Lippen sich tiefblau verfärbten, oder sie trugen Tannzapfen zusammen und staunten, wie sperrig sie sich anfühlten, wenn ihre Hände sie umschlossen. Sie warfen sie in den Leiterwagen, Julia kletterte hinein, setzte sich auf die Zapfen, zog lachend ihre dünnen Beine an, und Samuel brauchte seine ganze Kraft, um den Wagen aus der Senke zu ziehen; er kam sich stark vor, unbesiegbar. Eine Kindheit lang hatte der Wald ihn verzaubert. Vogelrufe, die Rauheit und Glätte der Rinden, die Festlichkeit des jungen Laubs, der Geschmack des Sauerklees: dies alles war zusammengeklungen in einer inneren Musik, für die er weder Worte noch Noten fand.

Doch der Wald, in den der Konvoi jetzt eindringt, gleicht einem wesenlosen Feind. Lichtkegel irren über gefällte [106] Bäume, scheinen in Erde und Laub zu versickern. Noch ahnt man hier und dort den Himmel; dann schließen sich mit jedem Meter die Wipfel enger zusammen, Büsche links und rechts streifen die Karosserie, Äste schlagen ans Fenster.

Maria, noch halb im Schlaf, greift nach Samuels Hand, und Mauron sagt grimmig: Wohin führt er uns jetzt, dieser Dummkopf? Das ist doch keine Straße mehr!

Der Wagen sackt in ein Loch; mit spulenden Rädern kriecht er hinaus.

Das ist ja die reinste Folter, sagt Rosa Berzine, wo sind wir bloß?

Weiter hinten wird gehupt. Der Sigma bleibt endgültig stecken, und damit kommt die ganze Kolonne zum Stehen. Mauron, der schon ausgestiegen ist, flucht und warnt, dass es da draußen sumpfig sei. De Weck befiehlt Kader und Mannschaft zu sich; man hört das Zuschlagen der Autotüren.

Gehen Sie nur, sagt Berzine zu Samuel, Ihr Leutnant ist offenbar überzeugt, dass hier keiner fliehen wird.

Aber er hat sich verfahren, der Gute, sagt Rosa mit einem ungläubigen Lachen. Dabei ist das Land so klein.

Es wird bald Morgen, sagt Helene. Dann sehen wir wenigstens, wo wir sind.

Mitten im Wald sind wir, sagt Samuel, während er die Beine übers schräg gestellte Gewehr hinweg ins Freie schwingt. Er sinkt sogleich ein, ertastet mit der Schuhspitze Gras und Steine, ein mit Wasser gefülltes Karrengleis, er hört Maria hinter sich sagen: Jetzt habe ich den ganzen Platz für mich allein. Er zwängt sich, zwischen Blech und Gezweig, am Wagen vorbei, stapft die paar Meter bis zum [107] Lichtkreis rund um den Leutnant. Die anderen gesellen sich, von hinten kommend, hinzu; ihr Atem wölkt durch die Lichtzone, verfliegt. Der Benzingeruch weicht den schweren Gerüchen des Walds.

Samuel fühlt sich eingekeilt und macht sich starr, starrer noch als der Leutnant, der in der Dunkelheit überall Ungehorsam wittert. Der Weg sei nicht richtig eingezeichnet, sagt de Weck.



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