Der König und sein Spiel by Dietrich Schulze-Marmeling

Der König und sein Spiel by Dietrich Schulze-Marmeling

Autor:Dietrich Schulze-Marmeling [Schulze-Marmeling, Dietrich]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783895338465
Herausgeber: Verlag Die Werkstatt
veröffentlicht: 2012-02-12T23:00:00+00:00


Die Phantasie an die Macht

Aber Cruyff und Co. waren in den Augen vieler Menschen – innerhalb wie außerhalb der Niederlande – mehr als nur Fußballer. Der „König“ und sein Gefolge verkörperten zugleich das Konzept vom „nederland gidsland“, eines kleinen Landes, das sich dem Rest der Welt moralisch überlegen fühlt und dies permanent demonstrieren muss. In einem Weltsystem, in dem sich Macht bis dato auf militärische und wirtschaftliche Kraft wie Bevölkerungsgröße gründete, versuchten die Niederlande, Einfluss und Macht durch „moralisches Gutsein“ zu entwickeln. Die Fußballer standen dabei nicht abseits, im Gegenteil. Johan Cruyff: „Wir Holländer sind eigensinnig. Selbst am anderen Ende der Welt erzählen wir den Leuten immer, wie sie ihren Kram zu machen haben. In diesem Sinne sind wir ein unangenehmes Volk.“

Im Laufe der 1960er Jahre hatte eine vielschichtige Revolution die provinziellen und rückständigen Nachkriegs-Niederlande in eines der progressivsten Länder Europas verwandelt. Die konfessionellen Parteien verloren ihre Machtstellung, neue Parteien wie die sozialliberalen und radikaldemokratischen Democraten 66 (D’66) entstanden, und die alten Eliten wurden von einer Kultur der Individualisierung, Emanzipation und Demokratisierung hinweggefegt.

Prof. Dr. Friso Wielenga, Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster: „In den 1960er Jahren entstand allmählich ein anderer Typus Bürger. Individualisierung und Säkularisierung bereiteten der übersichtlichen politisch-gesellschaftlichen Einteilung ein Ende und unterminierten die versäulten Macht- und Verhaltensmuster. Der mündig werdende Bürger suchte selbst nach Antworten und ließ sich immer weniger von Äußerungen der kirchlichen und politischen Autoritäten bevormunden. (…) Die stabile, versäulte und seit 1918 fast unveränderte politische Kräfteverteilung brach in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zusammen.“ (Unter „Versäulung“ versteht man in den Niederlanden das Nebeneinander von getrennten, sich kaum miteinander austauschenden Lebenswelten. Dies waren in der niederländischen Gesellschaft Katholiken, Protestanten und Sozialdemokraten / Arbeiterbewegung.)

1973, ein Jahr vor der WM in Deutschland, war in den Niederlanden eine vom Sozialdemokraten Joop den Uyl geführte „linke“ Koalition aus der Partij van de Arbeit (PvdA), D’66 und Politieke Partij Radicalen (PPR, eine Linksabspaltung der Katholieke Volkspartij) an die Macht gekommen, die sich ähnlich reformfreudig gab wie die Regierung von Willy Brandt in den Jahren 1969 bis 1972 in Deutschland. Wielenga: „,Die Phantasie an die Macht’, meinten viele, als den Uyl 1973 die Regierung übernahm. (…) Viele Niederländer fanden sich wieder im ersten Kabinett nach Ende der Versäulung, das übrigens aufgrund seines christlichen Untertons, mit dem viele Reformbotschaften verkündet wurden, doch eine religiöse Atmosphäre ausstrahlte. Den Uyl, selbst aus evangelisch-reformiertem Hause, schloss seine erste Regierungserklärung mit einem Zitat aus der Bibel: ‚Waar visie, waar uitzicht ontbreekt, kommt het volk om‘ (Ohne prophetische Offenbarung verwildert das Volk). Nicht ideologische Betrachtungen, sondern moralische Leidenschaft und Engagement waren für den niederländischen Reformschwung charakteristisch.“

Auf dem Fußballfeld bestand die „prophetische Offenbarung“ im „Fußball total“.

Cruyff und die Elftal prägten auch die Außenwahrnehmung ihres Landes, insbesondere durch das WM-Turnier 1974. Niemals zuvor und nie wieder danach schauten so viele Menschen auf dem Globus Cruyff und Co. beim Fußballspielen zu wie bei ihren Auftritten in Deutschland.

Nach der WM 1974 wird man niederländische Liberalität und Progressivität mit technisch exzellenten, angriffslustigen und selbstbewussten Kickern verbinden, die mit flatternden Haaren und dem Hemd aus der Hose über das Fußballfeld jagen.



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